Kinderhilfe

„Man muss sie fest in den Arm nehmen“

Viele Kinder in Ländern mit niedrigen Einkommen sind Waisen oder haben niemanden, der sich um sie kümmert. Sie sind auf Hilfe von außen angewiesen. Internationale Hilfsorganisationen sind dann oft ein Rettungsanker. Jane Nafula, seit 30 Jahren Pflegemutter im SOS-Kinderdorf in Nairobi, sprach mit E+Z/D+C über die Betreuung benachteiligter Kinder.
Eine SOS-Mutter im Kinderdorf Gwagwalada in Nigeria. Foto: picture-alliance/Frank May/Frank May Eine SOS-Mutter im Kinderdorf Gwagwalada in Nigeria.

Was brauchen Kinder in den ersten Lebensjahren, um gesund und glücklich zu sein? 

Vor allem brauchen kleine Kinder eine feste Bezugsperson. Diese Person ist die zentrale Figur in den ersten Lebensjahren. Säuglinge und Kleinkinder sind auf andere Menschen angewiesen, um zu überleben und um Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Sicherheit erfüllen zu können. 

Als SOS-Kinderdorfmutter sind Sie eine solche Bezugsperson. Was brauchen die Kinder, die Sie betreuen, in ihrer frühen Kindheit? 

Ich habe derzeit neun Kinder in meiner Obhut. Für mich hat oberste Priorität, dass sie sich sicher fühlen. Ich muss es ihnen ermöglichen, eine Bindung zu mir aufzubauen, auch wenn ich nicht ihre leibliche Mutter bin. Bei Säuglingen erfordert dies Körperkontakt. Man muss sie in den Arm nehmen, sie festhalten, sie tragen. Für Säuglinge ist das lebenswichtig – vor allem, wenn es diese Betreuung dort, wo sie herkommen, nicht gab. 

Ich bin auch für die Gesundheit der Kinder verantwortlich. Dazu gehören regelmäßige ärztliche Untersuchungen und die Einhaltung des Impfplans, was besonders für sehr junge Kinder wichtig ist. Und es braucht eine ausgewogene Ernährung, es müssen also Eiweiß, Kohlenhydrate und Vitamine im Speiseplan enthalten sein.

Welchen Herausforderungen sind Kinder in einem Land mit niedrigen Einkommen wie Kenia ausgesetzt, und was bedeutet das für ihre ersten Lebensjahre? 

Das größte Problem ist natürlich die Armut und alles, was sie mit sich bringt. Mangelhafte Unterkünfte an überfüllten Orten ohne angemessene Infrastruktur – insbesondere ohne sanitäre Einrichtungen – sind keine gute Voraussetzung für das Aufwachsen von Kindern, ganz zu schweigen von Kleinkindern. Dies führt zu Krankheiten, Unterernährung und macht eine gesunde Entwicklung unmöglich. Im Gegenteil, oft sterben Kinder unter solchen Umständen. 

Durch Armut fehlt oft eine angemessene Betreuung. Schlimmstenfalls haben Kinder in kenianischen Slums nicht einmal eine Betreuungsperson. Häufig führt der Druck der Armut dazu, dass Kinder vernachlässigt werden oder Streit vor ihren Augen ausbricht. Es gibt auch viele Fälle von Missbrauch in jungen Jahren, sogar von sexuellem Missbrauch. Diese Kinder leiden womöglich ihr Leben lang unter Trauma und Stress. 

Welche kulturellen Faktoren beeinflussen Kinderbetreuung und frühkindliche Entwicklung? 

In Kenia gibt es mehr als 40 ethnische Gruppen. Ihre Kulturen und Überzeugungen unterscheiden sich in gewissem Maße, und das gilt auch für ihre Kinderbetreuungspraktiken. Manche dieser Praktiken sind sehr schädigend für das Kind, wie etwa die weibliche Genitalverstümmelung (FGM), die einige Gemeinschaften leider immer noch praktizieren. 

Anderswo ist der Schaden eher indirekt. Manche Gruppen finden, dass man Kinder sehen, aber nicht hören sollte. Sie zeigen ihnen wenig Zuneigung und lehren sie, Probleme für sich zu behalten und still zu sein, besonders in Anwesenheit Älterer. Das mindert das Selbstwertgefühl der Kinder von klein auf, da sie sich mit ihren Sorgen an niemanden wenden können. 

Andere Kulturen glauben immer noch, Mädchen sollten nicht zur Schule gehen und seien nur dazu da, eines Tages verheiratet zu werden. Nur die Jungen erhalten Bildung. 

In einigen Teilen Kenias weiß man zudem wenig darüber, wie man Kinder medizinisch versorgt. Kranke Kinder werden dann nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern beispielsweise mit Kräutermedizin verarztet, die nicht immer wirkt.

SOS-Kinderdörfer setzen auf familienorientierte Betreuung. Wie hilft das dabei, Kindern in ihren ersten Lebensjahren ein stabiles Umfeld zu geben? 

Familienorientierte Betreuung bedeutet, dass Kinder eine langfristige, feste Bezugsperson haben. In jedem Kinderdorf gibt es etwa zehn bis 15 Häuser. In jedem Haus leben zehn Kinder und ihre Betreuerin, in Kenia sind das immer Frauen. Die Kinder wachsen also mit Geschwistern und einer Mutter in einem familiären Umfeld unter einem Dach auf. Das brauchen Kinder von klein auf: eine stabile Umgebung mit vertrauten Gesichtern, eine Familie. Als SOS-Mutter verstehe ich meine Kinder, weil ich den größten Teil ihres Lebens mit ihnen verbracht habe. Ich kenne sie mit all ihren Stärken und Schwächen. Die Kinder hängen an mir, auch die, die schon erwachsen sind. 

Welche Bildungsmöglichkeiten bietet SOS den Kindern von Anfang an, und wie werden sie dadurch auf eine bessere Zukunft vorbereitet? 

SOS sorgt für Plätze in guten Kindergärten und für alle notwendigen Materialien. Hier in Nairobi haben wir einen öffentlichen Kindergarten auf dem Gelände, dort gehen alle kleinen Kinder aus dem Kinderdorf hin. 

In Spielgruppen können sie dort Dinge spielerisch erkunden, durch Malen, Zeichnen oder den Umgang mit Materialien. Es gibt auch ersten Unterricht, in dem den Kindern zum Beispiel vorgelesen wird. Wir haben auch viel Spielzeug im Haus und einen Spielplatz im Dorf, die Kinder können also auch außerhalb des Kindergartens spielen. Das ist in diesem Alter sehr wichtig für die Entwicklung des Gehirns und um sie mit verschiedenen Materialien, Werkzeugen, Zahlen, Buchstaben und ihren eigenen Fähigkeiten vertraut zu machen. 

Sobald wir als Betreuerinnen merken, dass ein Kind in seiner Entwicklung Probleme hat, gehen wir mit ihm zu einer Fachperson und begleiten das Kind, bis wir sehen, wo es sich einfügen kann. 

Welche Rolle spielen die Unterstützung und das Engagement lokaler Gemeinden, um die Bedürfnisse von Kindern in Ländern mit niedrigen Einkommen zu erfüllen?

Die umliegende Gemeinde ist unverzichtbar. Meist sind es Sozialarbeiter*innen von hier, die bedürftige Kinder identifizieren und zu uns schicken. Es ist auch die Gemeinde, die Zeuge von Missbrauch wird und diesen meldet. Gelegentlich erhalten wir auch Kleider- oder Lebensmittelspenden aus der Gemeinde, die wir im Kinderdorf verteilen. Diese Gemeinschaft ist unser soziales Sicherheitsnetz. 

Wie arbeitet Ihr Dorf mit der örtlichen Gemeinschaft zusammen? 

Seit kurzem leben Familien aus der Gemeinde im Kinderdorf. Wir haben einige Familienhäuser an sie vermietet. Im Gegenzug sind die SOS-Familien, die dort gewohnt haben, in die Gemeinde gezogen. Dieser Schritt bietet den Kindern viel Raum zur Interaktion. Die Kinder aus dem Kinderdorf haben auch regelmäßig Kontakt zu Kindern, die im Rahmen des Familienstärkungsprogramms (FSP) – des anderen Hauptprogramms von SOS – gefördert und innerhalb ihrer Herkunftsfamilien in der Gemeinde unterstützt werden. Und dann mischen sie sich natürlich auch in der Schule oder in der Kirche unter die Gemeinschaft. 

Das ist wichtig, denn nur so lernen sie, wie das Leben außerhalb von SOS aussieht. Im Kinderdorf kennen sie nur unsere Einrichtung - eine Mutter, zehn Kinder. Durch den Kontakt mit der lokalen Gemeinde lernen sie mehr über die Probleme anderer Familien, deren Lebensweise – und die kenianische Kultur allgemein. 

Wie wirkt sich die Betreuung in den ersten Lebensjahren langfristig auf die Entwicklung der Kinder aus? 

Die Kinder ziehen mit einer guten Grundlage für ein stabiles und gesundes Leben aus SOS aus: Sie hatten von Anfang an ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung und Bildung. Sie sollten also das Zeug dazu haben, ihren Weg zu gehen, einen Job zu finden, eine Familie zu gründen und ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden. 

Ist das SOS-Modell ein Vorbild für die Kinderbetreuung weltweit?  

Auf jeden Fall. Es gibt so viele Kinder auf der Welt, die verlassen wurden, verwaist sind oder deren Familie sich nicht um sie kümmern kann. Sie brauchen einen Ort, an den sie gehen können, ein sicheres Zuhause, in das sie sich zurückziehen können. Dort wissen sie, dass es jemanden gibt, der sie aufnimmt und sich von Anfang an um sie kümmert. Das sind die SOS-Betreuer*innen. Das ist eine ganz besondere Rolle. Aber ich glaube, es gibt überall auf der Welt Menschen, die die Gabe haben, sich um Kinder zu kümmern, die nicht ihre eigenen sind. Mit SOS können sie diese Gabe nutzen, um Kindern ein besseres Leben zu geben.

Jane Nafula ist SOS-Mutter im SOS-Kinderdorf in Nairobi. 
https://www.sos-childrensvillages.org/

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