Industrie

Asiatische Lektionen für Afrika

Viele westliche Beobachter machen sich Sorgen über Ausbeutung in den Textilfabriken von Bangladesch. Wo sie Armut und Elend sehen, erkennt ein afrikanischer Experte indessen einen viel versprechendes Entwicklungsmodell für Länder südlich der Sahara.
Globale Aufmerksamkeit: African Fashion Week in Toronto im August 2017. Shivaani/picture-alliance/NurPhoto Globale Aufmerksamkeit: African Fashion Week in Toronto im August 2017.

Die Industrie ist in Afrika unterentwickelt. Ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung ist deprimierend klein. Der Weltmarkt für fertige Güter hatte 2014 ein Volumen von 1 230 Milliarden Dollar, und davon bekam Afrika laut dem Londoner Economist nur 1,5 Prozent ab. Um Arbeitsplätze zu schaffen, muss das verarbeitende Gewerbe wettbewerbsfähig werden. 

Bislang exportiert Afrika vor allem agrarische und mineralische Rohstoffe. Die Wertschöpfung bleibt gering, denn in den Produktionsländern wird kaum etwas verarbeitet. Der Weltbank zufolge machten 2014 Rohstoffexporte 46,3 Prozent der afrikanischen, aber nur 10,3 Prozent der globalen Ausfuhren aus. 

Andererseits ist Afrika heute ein riesiger Markt für verarbeitete Waren und Dienstleistungen aus anderen Kontinenten. Die Einfuhr von Gütern, die aus afrikanischen Rohstoffen gefertigt wurden, frisst Währungsreserven auf. 

Eine Option ist, die Textil- und Bekleidungsindustrie auszubauen. Afrika importiert rund 85 Prozent seiner neuen Kleider, und das schließt sogar traditionelle Trachten ein. Der Einfuhranteil ist viel zu hoch. Afrika hat viele unterbeschäftigte und arbeitslose Menschen, die etwas zur Bedienung der großen heimischen Nachfrage beitragen könnten. 

Wo Industrialisierung im Lauf der Geschichte einsetzte, ging es fast immer mit der Textilproduktion los. Aktuelle Beispiele sind Bangladesch und Vietnam. Beide Volkswirtschaften sind in den vergangenen Jahrzehnten schnell gewachsen, und die Industrie wurde dort stetig wichtiger. Beide Länder haben auch die Armut deutlich reduziert.

Diese Art von Erfolg brauchen afrikanische Länder. Sie täten gut daran, von den asiatischen Vorbildern zu lernen. Ein zentrales Thema ist die Infrastruktur, welche die Textilindustrie (und andere Branchen) brauchen: Straßen, Strom, Wasser, Häfen, Märkte, Finanzdienstleistungen und so weiter. Wo es an diesen Dingen hapert, fallen die Produktionskosten viel höher aus.

Leider versäumt die Politik auch, Investitionen in afrikanische Textilunternehmen zu fördern. Wegen Schmuggel werden afrikanische Märkte mit Billigkleidung aus Übersee überflutet, und heimische Ware wird verdrängt. Da weder Steuern noch Zölle bezahlt werden, leiden zudem die Staatshaushalte. 

Afrikanische Volkswirtschaften müssen jede Stufe der textilen Wertschöpfungskette (Spinnen, Weben, Färben, Drucken et cetera) übernehmen. So kann Arbeit für Massen ungelernter Menschen entstehen. Bislang betreiben die Regierungen dieser Weltregion aber keine Politik, die die Branche voranbringen würde. Defizite gibt es bei Infrastruktur, Gesetzgebung und steuerlichen Anreizen.

Die Arbeitskosten sind in Afrika gering. Textilarbeiter verdienen derzeit 40 bis 160 Dollar im Monat. Afrikanische Unternehmen sind aber recht klein. Nur sehr wenige beschäftigen mehr als 200 Leute. Wenn die Rahmenbedingungen besser würden, könnten diese Firmen schnell expandieren.  

Afrikas Industrieproduktion wuchs 2014 um 3,9 Prozent. Der Ausbau der Infrastruktur würde ihr zusätzlichen Schwung verschaffen. Derweil würde schnelles Wachstum der Textilindustrie die Zukunftschancen des Kontinents dramatisch verbessern.

Afrika ist die Wiege der Menschheit. Der Kontinent ist kulturell und ökologisch sehr vielfältig. Konsumenten weltweit sind beeindruckt von seiner breiten Palette an Stoffen, Mustern und traditioneller ebenso wie moderner Kleidung. Jährlich werden afrikanische Textilien mit raffinierten Mustern und Stickereien im Wert von mehr als 4 Milliarden Dollar an Endverbraucher verkauft. Auf dieser Basis kann die Textilentwicklung nun zügig aufbauen.

Afrikanische Regierungen haben im Rahmen der UN-2030-Agenda mit den Nachhaltigkeits-Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals – SDGs) und der 2036-Agenda der Afrikanischen Union versprochen, die Lebensbedingungen in ihren Ländern zu verbessern. In diesem Kontext ist die Textilindustrie vielversprechend. Sie kann Millionen Menschen aus der Armut heben – und vielleicht auch hunderte von Millionen.