Deradikalisierung
„Demokratieerziehung ist genauso wichtig wie Mathe“
Wie groß ist die Gefahr der Radikalisierung junger Einwanderer?
Es ist die Frage, was mit „radikal“ oder „gewaltbereit“ gemeint ist. Wenn Sie fragen, wie viele Einwanderer bereit sind, im Namen einer Ideologie Gewalt auszuüben, ist es nur eine kleine Minderheit. Bei Gewalt gegen Frauen sieht es schon anders aus. Viele Flüchtlinge sind bereit, Gewalt gegen Frauen auszuüben, und haben es auch schon dutzendfach getan, weil sie andere Vorstellungen darüber haben, was Frauen dürfen und was nicht. In ihren Augen dürfen Frauen mit ihrem Körper nicht machen, was sie wollen. Ein anderes Beispiel ist das Thema Gleichberechtigung der Religionen. Viele muslimische Jugendliche sind dagegen, dass ihre Religion kritisiert werden darf.
Was ist der Grund dafür?
Die meisten Flüchtlinge sind junge Männer, die aus autoritären Ländern kommen, wo Antisemitismus und Verachtung des Westens zum Bildungskanon gehören. Als 2015 sehr viele Flüchtlinge ankamen, war der Staat überfordert und die Art und Weise, wie sie aufgenommen wurden, war nicht gut. Auf der anderen Seite sind auch die Neuankömmlinge damit überfordert, in einem fremden Land zu sein. Sie fragen sich, was das Land und die Gesellschaft von ihnen erwartet. Da entstehen schnell Identitätsverlustängste. Und diese sind ein fruchtbarer Boden für Radikalisierung. Ähnlich geht es manchen Einwanderkindern der 2. und 3. Generation. Islamismus war nie nur ein Thema von Flüchtlingen.
Warum kommt es eher bei Kindern von Einwanderern zu radikalen Tendenzen als bei den Eltern?
Dazu kann ich aus meiner eigenen Biografie berichten. Auch ich bin als junger Mann in Israel in die Fänge radikaler Islamisten geraten. Und ich sehe in Deutschland viele Biografien, die meiner ähnlich sind. Ich war damals auf der Suche. Ich war unzufrieden mit meinem Leben, ich wurde gemobbt, ich hatte Zukunftsängste, ich habe kein großes Interesse meiner Eltern und wenig Liebe erfahren – wir waren sehr arm. Auf der Suche nach Orientierung traf ich auf einen Imam, der Interesse an mir zeigte. Er konnte eine Bindung zu mir schaffen und hat so einen emotionalen Zugang zu mir gefunden. Dadurch entdeckte ich eine neue Welt voller Akzeptanz, neuer Regeln und Orientierung. Ich gehörte plötzlich zu einer Elite. Das war toxisch für einen jungen Menschen ohne Halt. Ich war leidenschaftlich dabei, ich habe gar nicht gemerkt, dass ich radikal war. Ich war überzeugt, das ist der richtige Weg. Meine Rettung war, dass ich dann mit 19 Jahren woanders gelebt habe und mit anderen Menschen zu tun hatte, andere Bücher gelesen habe und durch meine Neugier diese radikalen Tendenzen bewältigen konnte.
Das heißt doch, dass die Gesellschaft es nicht geschafft hat, diese jungen Leute anzusprechen?
Ja, wir haben ein Riesenproblem mit Integration. Es fehlt an guten, richtigen und nachhaltigen Integrationsmaßnahmen. Bisher sind diese zu unprofessionell, zu allgemein. Ein Beispiel: In Zürich gibt es staatliche Programme für Frauen, 16 Termine, 5 davon behandeln das Thema Mülltrennung, kein einziger das Thema Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit. Dabei müssen zur Integration Begegnungen auf Augenhöhe geschaffen werden. Wir müssen Bindungen schaffen, da sein, wo die Jugendlichen sind, ihre Sprache sprechen. Dazu muss man die Leute ganz lange begleiten, Vorbilder schaffen und die Werte der Aufnahmegesellschaft in aller Deutlichkeit kommunizieren. Wir brauchen eine Methode, die Jugendlichen demokratische Diskurse beibringt, und die Einsicht, dass man über Tabuthemen sprechen muss. Jugendliche müssen lernen, dass man Meinungen mit Argumenten austauscht, nicht mit Wut, Emotionen und Ablehnung. Da fängt man am besten nicht gleich mit den Tabuthemen an, sondern bei der Meinungsfreiheit allgemein, und das muss trainiert werden. Und wenn diese Basis geschaffen ist, dass die Jugendlichen miteinander diskutieren können und Gegenmeinungen aushalten können, dann kann man mit ihnen über Religionsfreiheit und Gleichberechtigung von Frauen reden. Bisher haben wir es oft nicht geschafft, diese Zielgruppe zu erreichen. Den Islamisten, Salafisten, aber auch dem türkischen Präsidenten Erdogan und Nationalisten ist das vielfach besser gelungen. Sie haben massiv Ressourcen und Zeit zur Rekrutierung neuer Anhänger investiert.
Heißt das, wir müssen besser und schneller als die islamistischen Rattenfänger sein?
Ja, das ist unser Motto, wenn wir in Gefängnisse gehen: schneller als die Extremisten sein, die Menschen gegen ihre Ideen immunisieren. Ich habe einmal provokativ gesagt, die Islamisten sind die besseren Sozialarbeiter. Wie kann es sein, dass ISIS in den letzten Jahren professioneller in den sozialen Medien aufgetreten ist als die Bundeszentrale für politische Bildung? Warum gelang es ISIS fast in Lichtgeschwindigkeit, Videos zu produzieren, die die Jugendlichen ansprechen, und warum brauchen Demokraten Tage, Wochen oder Monate, um Antworten zu finden? Wir müssen klarmachen, dass wir auch etwas anzubieten haben. Freiheit ist auch etwas, was diese Menschen interessiert, aber wir verkaufen es ihnen nicht so, dass sie Interesse haben. Und darin müssen wir besser werden.
Ein geeigneter Ort zur Demokratieerziehung wäre doch die Schule.
Ja genau. Es gibt zwar punktuell gute Ansätze, aber in der Fläche passiert viel zu wenig, und es ist auch nicht Teil des Lehrplans. Die Lehrer müssen sich dafür extra Zeit nehmen. Dabei ist Demokratieerziehung und Integration meines Erachtens genauso wichtig wie Mathe oder Englisch. Das muss in den Lehrplan aufgenommen werden. Ein Problem ist auch, dass Lehrer keine Ausbildung in interkultureller Kompetenz und im Umgang mit Vielfalt haben. Das ist auch ein Grund, warum ich in Schulen gebucht werde. Die Lehrer wissen nicht, wie sie mit aggressivem, demokratiefeindlichem Verhalten umgehen sollen.
Wie kommen Sie an bereits gewalttätige Islamisten heran?
Vor allem machen wir Präventionsarbeit, versuchen die Leute zu erreichen, bevor sie sich radikalisieren. Wir machen aber auch Deradikalisierungsarbeit in Gefängnissen, mit Leuten, die bei ISIS waren oder Anschläge verübt haben. Das ist ein langer, schwieriger Prozess. Es ist eine psychologische Begleitarbeit. Es geht darum, die Gründe zu finden, warum diese Ideologie so attraktiv für die Betroffenen war. Am besten müssen dabei Zivilgesellschaft, Fachdienste in den Gefängnissen und Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten. Das geschieht in vielen Bundesländern aber noch nicht. Außerdem gibt es keine Erfolgsgarantie. Ich kann nicht sagen, dass ich alle, die ich begleitet habe, deradikalisiert habe.
Wie ist es Ihrer Einschätzung nach um das Demokratieverständnis von Einwanderern aus Subsahara-Afrika bestellt?
Wir haben in Gefängnissen und Willkommensklassen mit Afrikanern gearbeitet. Diese Gruppe ist sehr heterogen, das ist ganz anders als im arabischen Raum. Afrikaner haben eine sehr unterschiedliche Einstellung zu Freiheit und Demokratie. Wir haben Leute getroffen, die sehr radikale islamistische Erfahrungen gemacht haben. Es ist mir aber kein wegen Terror verurteilter Straftäter bekannt. Bei denjenigen, die im Gefängnis sitzen, geht es meist um Kleinkriminalität. Aber hier müssen wir aufpassen, dass diese Leute sich nicht im Gefängnis radikalisieren. Andere sind aber freiheitsorientiert und kamen nach Europa, um diese Freiheit und Individualität auszuleben.
Ahmad Mansour ist Diplom-Psychologe, Extremismusexperte und Autor. Er gründete 2018 Mind Prevention, die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention.
info@mind-prevention.com