Türkei
Der Ein-Mann-Staat
Mit der Wahl von Recep Tayyip Erdogan zum Staatspräsidenten am 24. Juni 2018 hat sich die Türkei endgültig als demokratischer Rechtsstaat verabschiedet. Aus der parlamentarischen Republik ist ein autoritärer Ein-Mann-Staat geworden. Durch das neue Präsidialsystem hat der 64-Jährige so große Befugnisse wie noch kein gewählter Staatsmann in der 95-jährigen Geschichte des Landes.
Zwei Jahre herrschte nach einem missglückten Putschversuch der Ausnahmezustand, in dem Erdogan per Dekret regierte. Diese Sonderrechte sind nun in ordentliche Gesetze überführt und damit zum Dauerzustand erklärt worden. So kann Erdogan Gouverneure ermächtigen, Ausgangssperren verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen verbieten, Vereine schließen sowie Personen und Kommunikation strenger überwachen lassen. Erdogan darf unter anderem zwölf der 15 Verfassungsrichter ernennen. Er ist oberster Befehlshaber der Streitkräfte. Er bestimmt die Minister und ist Vorsitzender der islamisch-konservativen Entwicklungs- und Fortschrittspartei (AKP). Das Parlament ist zu einer Abnick-Bühne degradiert worden. Es gibt kein einziges Korrektiv, wie man es aus dem französischen oder US-amerikanischen Präsidialsystem kennt.
Doch die vorgezogene Wahl im Juni ist nicht ganz so aufgegangen, wie sich Erdogan das gewünscht hatte. Die AKP landete bei 42,6 Prozent der Stimmen, verfehlte die absolute Mehrheit im 600-köpfigen Parlament um sechs Sitze und ist auf eine Koalition mit der rechtsextremen MHP angewiesen. Erdogan verschärfte als Erstes den Ton gegenüber der kurdischen Partei HDP, die es trotz aller Repressalien wieder über die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament geschafft hat. Kurz nach der Wahl drohte Erdogan bereits den Städten in der Südosttürkei, deren Kommunalverwaltungen die HDP leitet, „den Preis dafür zu zahlen“, dass sie angeblich Steuergelder an die Terrororganisation PKK weiterleiten würden.
Ein erneutes Aufflammen des Kurden-Konflikts würde Erdogan gerade recht kommen, um vom drängendsten Problem abzulenken: der Währungskrise, die zu einer handfesten Wirtschaftskrise geworden ist. „Gebt diesem Bruder die Vollmacht und er wird euch zeigen, wie man es mit den Zinsen und Sonstigem aufnimmt“, hatte Erdogan vor den Wahlen getönt. Die Realität sieht anders aus. Die Lira ist ins Bodenlose gestürzt, die Inflationsrate lag im August bei 17,9 Prozent. Der Türkei droht eine Stagflation, das heißt, die Wirtschaftskraft lässt nach, während gleichzeitig die Verbraucherpreise steigen. Der Privatsektor hat schon jetzt enorme Schwierigkeiten, seine im Ausland in Dollar aufgenommenen Kredite zurückzubezahlen (siehe E+Z/D+C e-Paper 2018/09, S. 13). In den nächsten Monaten drohen Firmenschließungen und Entlassungen.
Gleichgeschaltete Medien
Die dramatischen Konsequenzen aus dieser Krise sind vielen Menschen in der Türkei gar nicht bewusst, weil sie von den weitgehend gleichgeschalteten Medien Tag für Tag belogen werden. „Ausländische Kräfte“ und die „Zinslobby“ sind als Schuldige ausgemacht worden. Dabei war es Erdogan selbst, der die Währungskrise befeuert hat, indem er die Autonomie der Zentralbank infrage gestellt hat und seine Ablehnung gegenüber dem Zinssystem kundtat. Doch auch ein Autokrat kann nicht auf Dauer die weltweiten wirtschaftlichen Gesetze außer Kraft setzen. Da helfen auch die zahlreichen Finanzspritzen aus dem Emirat Katar nichts. Und erst recht nicht das Eintauschen von Dollars in Lira, wie es Erdogans Anhänger getan haben.
Zusätzlich belastet wurde die türkische Wirtschaft durch die politische Krise mit den USA um den Freiheitsentzug für den US-amerikanischen Pastor Andrew Brunson. Ihm wird absurderweise Terrorismusunterstützung vorgeworfen. Ein beliebtes Mittel, um alle, die gegen Erdogan sind, als „Staatsfeinde“ zu brandmarken. Diese Methoden haben das Vertrauen in eine unabhängige Justiz endgültig zerstört. Erdogan wollte Brunson schon vor längerer Zeit im Gegenzug für Fethullah Gülen austauschen. Das ist der unliebsame türkische Prediger, der in den USA lebt und den Erdogan für den Putschversuch vor zwei Jahren verantwortlich macht. Präsident Donald Trump reagierte auf die Verhaftung Brunsons mit massiven Sanktionen. Bis Mitte Oktober verlangt die USA eine Lösung, sonst könnten die Spannungen zwischen beiden Ländern eskalieren.
Der türkische Präsident steht mehr denn je mit dem Rücken zur Wand. Und immer, wenn er das tut, vollzieht er politische Kehrtwenden. Während er sich in der Vergangenheit mit den Chinesen wegen der Unterdrückung der Uiguren anlegte und sich als Schutzherr der muslimischen Minderheit gerierte, ist davon in Zeiten finanzieller Not nichts mehr übrig geblieben. Der Lohn: Im Juli bekam die Türkei einen Kredit aus China in Höhe von 3,6 Milliarden Dollar. Am 28. September präsentierte Finanzminister Berat Albayrak, Erdogans Schwiegersohn, einen Vertrag mit der Unternehmensberatung McKinsey, die die Wirtschaftsverwaltung in der Türkei reformieren sollen. Ein klares Eingeständnis, es selber nicht zu können. Und dann ausgerechnet ein Unternehmen aus den USA, das tiefste Einblicke in die Wirtschafts des Landes erhält.
Da überrascht auch die plötzliche Annäherung an die Europäische Union (EU) nicht. Jener EU, deren Ländern er Nazi-Methoden vorgeworfen hat, von der er sich schon längst abgewendet hatte und deren Staatsbürger er – darunter deutsche Journalisten – als politische Geiseln hält.
Die EU hat kein Interesse daran, dass die Türkei in eine handfeste Wirtschaftskrise schlittert, da ihre Banken hohe Kredite an türkische Kredithäuser vergeben haben und bei Nichtrückzahlung selber in Schwierigkeiten geraten könnten. Zudem braucht die EU die Türkei als Prellbock, damit nicht noch mehr Flüchtlinge nach Europa kommen und rechte Kräfte gestärkt werden. Die Türkei ist auf die EU-Investitionen angewiesen und kann es sich nicht leisten, vollkommen isoliert zu sein. Deshalb kann sie trotz der Flüchtlingsproblematik auch nicht aus einer Position der Stärke gegenüber der EU auftreten. Das ist die Chance für die Europäer, Druck auf die Türkei auszuüben und die Einhaltung rechtstaatlicher Prinzipien einzufordern, vor allem wenn es um ihre eigenen Staatsbürger geht. Um einen EU-Beitritt geht es schon lange nicht mehr.
Ein weiterer Brandherd für Erdogan ist der Syrien-Krieg. Mitte September einigte er sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine entmilitarisierte Pufferzone im syrischen Idlib. Damit ist vorerst eine weitere humanitäre Krise vom Tisch, bei einem Angriff der syrischen und russischen Armee ist mit weiteren Millionen von Flüchtlingen zu rechnen. Bereits jetzt leben 3,5 Millionen Menschen in der Türkei, die aus Syrien oder dem Irak geflohen sind. Trotz der vorläufigen Einigung steht die Türkei vor großen Gefahren. Was machen die Dschihadistengruppen, die bereits vor der türkischen Grenze sind? Was passiert mit denen, die noch in Syrien kämpfen? Und wie reagiert die PYD, der syrische Ableger der PKK?
Aus diesen Problemen kann die türkische Opposition kein Kapital schlagen. Zum einen wird ihre Arbeit durch Verhaftungen wie bei der HDP erschwert oder findet in den Medien überhaupt nicht statt, wie bei der Iyi Parti (Gute Partei). Zum anderen zerfleischt sich die größte Oppositionspartei, die CHP, selbst. Deren Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu weigert sich beharrlich, nach der x-ten Wahlpleite den Weg für Muharrem Ince frei zu machen, der bei den Präsidentschaftswahlen über 30 Prozent der Direktstimmen erhalten hat. Dabei hatten viele auf frischen Wind von Ince gehofft, nachdem seine Partei bei der Parlamentswahl mit 22,6 Prozent der Stimmen so schlecht wie lange nicht mehr abgeschnitten hatte. Dieser Wind ist aber genauso schnell abgeflaut, wie die türkische Lira an Wert verloren hat.
Trotz aller Macht in seiner Hand steht Recep Tayyip Erdogan vor der schwierigsten Zeit seiner politischen Karriere. Seine Krawall-Politik hat Bündnispartner wie die USA und die EU verprellt. Statt aus eigener Kraft Beziehungen mit vielen Staaten zu gestalten, ist der einzige Bewegungsspielraum in der Außenpolitik das Ausnutzen von Schwächen und Konflikten der Partner untereinander.
Einen Sündenbock, auf den er die Wirtschaftskrise schieben kann, gibt es nicht. So wird es drauf ankommen, wann seine Wähler anfangen, Fragen zu stellen, und wie sie reagieren, wenn sie kein Geld mehr in der Tasche haben. Erst wenn sie auf die Straße gehen, kann das System Erdogan ins Wanken geraten.
Timur Tinç ist Redakteur bei der Frankfurter Rundschau.
t.tinc@fr.de