Entwicklungsforschung
Weshalb Entwicklung einen Elitenkonsens braucht
Das Buch heißt „Gambling on development“ (grob: Entwicklung als Glücksspiel), und der Untertitel verspricht eine Erklärung dafür, „weshalb manche Länder gewinnen und andere verlieren“. Laut Dercon kommt es vor allem auf einen Konsens der nationalen Eliten an, dem Wirtschaftswachstum Vorrang zu geben. Wo ein „Entwicklungskonsens“ bestehe, würden staatliche Mittel für den Ausbau von Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitswesen verwendet. Das wiederum trage zur Armutsreduzierung bei. Zudem würden makroökonomische Entscheidungen umsichtiger getroffen und Raum für Exportbranchen geschaffen.
Der Professor von der Universität Oxford schreibt, wo die Elite einen Entwicklungskonsens habe, werde staatliche Entwicklungshilfe in der Regel produktiv eingesetzt, sodass sich Geber kaum um Kontrolle und Kreditbedingungen kümmern müssten. Dercon kennt sich aus – er war zeitweilig Chefökonom des früheren britischen Entwicklungsministeriums (DfID – Department for International Development). Er verwendet den Begriff „Entwicklungshilfe“ – allerdings nicht paternalistisch. Es geht ihm nicht darum, dass Fachleute aus Ländern mit hohen Einkommen ärmeren Partnerländern Vorgaben machen. Vielmehr funktioniere Entwicklungshilfe dann, wenn sie Regierungen unterstütze, die Politik auf der Basis eines stimmigen Konsens betreiben. Deren Entwicklungsintentionen seien wichtiger als die Expertise internationaler Geber.
Andererseits kämen Länder ohne solch einen Entwicklungskonsens laut Dercon wirtschaftlich nicht voran. Sie würden nämlich von mächtigen Interessengruppen ausgebeutet, die aus Angst, Privilegien und Einkommen zu verlieren, echte Reformen blockierten. Der Autor betont, Eliten gingen Risiken ein, wenn sie sich auf einen Entwicklungskonsens einließen. Das zahle sich erfahrungsgemäß aber oft aus. Eine wachsende Wirtschaft schaffe nämlich neue Chancen, die sowohl den etablierten Eliten als auch bislang weniger wohlhabenden Menschen zugutekämen.
Chinesischer Erfolg
In den vergangenen vier Jahrzehnten war China das Land mit den spektakulärsten Entwicklungsfortschritten. Dercon kann das gut erklären. Er lehnt das Narrativ des Pekinger Regimes ab, dem zufolge eine entschlossene autoritäre Führung die Voraussetzungen für schnelles Wachstum und breit angelegte Armutsbekämpfung geschaffen habe. In Dercons Augen kam es auf etwas anderes als despotische Herrschaft an – nämlich auf die Bereitschaft der Parteispitze:
- unterschiedliche Strategien zu testen,
- Spielraum für politische Entscheidungen auf lokaler Ebene zu schaffen und
- dann auf nationaler Ebene zu kopieren, was örtlich gut funktionierte.
Dercon betont, dass kein Diktator erfolgreiche Entwicklung per Befehl in Gang setzen kann. Entscheidend sei, in Erfahrung zu bringen, wie Erfolg zustande komme. In China bedeutete dies, lokale Autonomie bei Experimenten zu erlauben, ohne ständig von oben zu intervenieren. Zudem galt es, Ergebnisse objektiv und fair zu bewerten. Dercon urteilt, dafür sei kein starker Führer nötig gewesen, dessen persönliche Machtfülle allen Untergebenen Angst gemacht habe. Zentral sei vielmehr die gemeinsame Vision der kommunistischen Partei gewesen.
Dieser innerparteiliche Konsens machte in drei Jahrzehnten aus Dercons Sicht aus einem der ärmsten Länder der Welt deren zweitmächtigste Nation. Für die Einführung dieses Entwicklungsregimes werde Deng Xiaoping gepriesen. Tatsächlich, so der Oxford-Professor, brauchte er die freiwillige Unterstützung vieler anderer Parteikader. Der Konsens darüber, was erreicht werden sollte, sei wesentlich gewesen.
Diskreditierter Despotismus
Dercon zufolge hat nicht Despotismus, sondern kompetente, faktenorientierte Verwaltung auf Basis gemeinsamer Grundsätze China Wohlstand gebracht. Folglich scheiterten viele Länder, die ohne Entwicklungskonsens autoritär regiert würden. Wäre Diktatur an sich der Schlüssel zum Erfolg, wäre Nigeria heute eine fortgeschrittene Nation. Nigeria hat aber, wie Dercon darlegt, trotz einer langen Reihe von Militärdiktaturen noch immer keinen Entwicklungskonsens. Vielmehr wollten nigerianische Eliten sich so viel wie möglich vom Ölreichtum des Landes unter den Nagel zu reißen. In der Demokratischen Republik Kongo sei die Lage noch schlimmer, weil dortige Eliten sich einig seien, dass starke Akteure gewalttätige Milizen zur Ressourcenplünderung einsetzen dürften.
Südasiatische Erfahrungen
Andererseits bedürfe es keiner autoritären Führung, um einen Entwicklungskonsens zustande zu bringen, schreibt Dercon. Bangladesch dient ihm als Beispiel. Als das Land 1971 seine Unabhängigkeit von Pakistan erlangte, galt es international als hoffnungsloser Fall. Vier Jahrzehnte später war es das südasiatische Land, das bei der Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele glänzte. Bei vielen Entwicklungsindikatoren liegt Bangladesch heute vor Indien und Pakistan.
Dercon erklärt das damit, dass der von Privatunternehmertum, Beamtenschaft und Zivilgesellschaft geschlossene Entwicklungskonsens sich als recht effektiv erwiesen habe. Trotz der Reputation des Landes für korrupte und dysfunktionale Regierungsspitzen hätten sich viele Maßnahmen als recht klug erwiesen. Bangladesch hat starke Exportbranchen geschaffen, die wirtschaftlichen Standortbedingungen verbessert und neue Chancen für die breite Bevölkerung, einschließlich der Armen, geschaffen.
Was Geberländer tun können
Als ehemaliger DfID-Beamter zeigt Dercon großes Interesse daran, was die Geberländer tun können und sollten. Eine seiner Kernbotschaften ist, dass harte Konditionen nicht helfen. So habe etwa Pakistan trotz zahlreicher IWF-Rettungspakete mit strengen Auflagen weiterhin keinen Entwicklungskonsens.
Andererseits kann laut Dercons Einschätzung ausländisches Geld positive Wirkungen auslösen, die mehr seien als bloße Unterstützung eines bestehenden Entwicklungskonsenses. In den frühen 1990er-Jahren habe ein IWF-Rettungsschirm geholfen, den Konsens der indischen Elite neu zu definieren. Wie Dercon ausführt, hatte Zentralplanung zuvor mächtigen Interessengruppen ermöglicht, das Land quasi wie Lehnsgüter auszubeuten. Dann sei eine schwere Finanzkrise genutzt worden, um die Wirtschaft weitgehend zu liberalisieren. Das anschließende Wachstum verfestigte ein neues Paradigma, das nun von der Elite geteilt werde. Laut Dercon ist der Entwicklungskonsens in Indien immer noch schwächer als in Bangladesch. Allerdings wolle keine relevante politische Kraft zum überregulierten alten System zurück.
Dercon warnt aber andererseits, dass Entwicklungshilfe in schwierigen Situationen Probleme auch vergrößern kann. Als Beispiel dient ihm Afghanistan. Das große Paradox sei, dass internationale Finanzierung oft dort am dringendsten erscheine, wo sie am wenigsten bewirken könne. Wie in Afghanistan gebe es auch in anderen sehr armen und von Unruhen geprägten Ländern mit dysfunktionalen Staaten keinen Entwicklungskonsens. Dennoch sähen die Regierungen von Geberländern sich oft gezwungen, zumindest humanitäre Hilfe zu leisten.
Dercon rät, in solchen Szenarien darauf zu achten, ob sich ein produktiver Elitenkonsens abzeichne. Sei das der Fall, sollten die Kräfte, die ein Interesse an ihm zeigen, so gut wie möglich unterstützt werden. Dercons Erkenntnissen zufolge entstehen solche Konsense oft in Krisenzeiten, wenn „weiter so“ keine Option mehr sei. Kompetente Fachleute aus staatlichen Bürokratien fielen dabei häufig mit konstruktiver Vermittlungstätigkeit auf.
Das Buch enthält viele Fallstudien sowie einen Überblick über wichtige entwicklungstheoretische Publikationen der vergangenen 20 Jahre. Es ist somit eine nützliche Einführung für alle, die sich neu mit der Materie befassen. Dercon baut auf der Fachliteratur auf – und wie er das tut, zeigt, dass er selbst hohe Aufmerksamkeit verdient.
Hans Dembowski
ist Chefredakteur von E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu