Politischer Diskurs
Benachteiligten eine Stimme geben
Die Meinungsfreiheit ist ein Grundpfeiler jeder sozialen Ordnung, die diesen Namen verdient. Sie ist auch ein wesentliches Merkmal der Menschenwürde. Wo freie Rede verboten ist, fehlt Individuen wie sozialen Gemeinschaften ein zentrales Instrument der Selbstbestimmung.
Historisch fehlte unterdrückten Gruppen nicht nur nicht die Redefreiheit. Ihnen wurde auch Bildung vorenthalten, die es ihnen erlaubt hätte, für die eigene Selbstbestimmung zu streiten. Unfreiheit währt aber nicht ewig. Sklaven, Plebejer, Leibeigene, Angehörige der unteren Kasten, Proletarier oder koloniale Untertanen – immer wieder kam es zu Revolutionen, weil Unterdrückte für ihre Rechte aufstanden.
Meinungsfreiheit beruht darauf, dass sich alle Mitglieder einer Gesellschaft als fundamental gleichberechtigt anerkennen. Die Realität weicht leider oft von wohlformulierten Verfassungsgrundsätzen ab. Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA im 19. Jahrhundert als „Republik“ galten, nicht als Demokratie. Das Britische Weltreich wurde von einem „Wahladel“ gelenkt. In beiden Fällen galt offiziell Meinungsfreiheit. Die USA schafften die Sklaverei aber erst 1865 ab, während Briten ein weltweites Kolonialreich hatten und daheim die Arbeiterklasse nicht wählen ließen.
„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, lautet ein berühmter Ausspruch der deutschen Revolutionärin Rosa Luxemburg. Sie unterstützte nicht Hassprediger und Manipulatoren, sondern alle, die es wagten, Machthabern die Wahrheit zu sagen und für Ausgegrenzte einzutreten. Aus ihrer Sicht sollte Meinungsfreiheit den Schwächsten dienen. Aimé Césaire, der Dichter aus Martinique, formulierte das so: „Mein Mund wird der Mund jener Unglücklichen sein, die keinen Mund haben.“
Marginalisierung Andersdenkender
Meinungsfreiheit ist in Demokratien besser geschützt als in autoritären Staaten. Despotische Herrscher neigen dazu, Journalisten zu schikanieren, zu verfolgen und sogar zu töten. So gehen sie auch mit anderen Kritikern um. Dennoch gibt es ernsthafte Probleme auch in Demokratien, die Andersdenkende zwar nicht brutal zum Schweigen bringt, aber an den Rand drängt.
Was heute „Public Relations“ oder „PR“ heißt, hieß früher einmal „Propaganda“. 1928 veröffentlichte Edward Bernays, der Vater der PR-Branche, ein Buch mit dem Titel „Propaganda“. Ihm zufolge ist die „bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ein wichtiges Element der demokratischen Gesellschaft.“ Bernays schrieb, es seien „größtenteils Männer, von denen wir noch nie gehört haben“, die „unseren Geist gestalten, unseren Geschmack formen, unsere Ideen vorschlagen“.
Anders formuliert: Die öffentliche Meinung prägen jene, welche die Macht dazu haben – und zwar besonders in den Medien. Dazu zählen Staatsorgane, aber auch die Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen und Interessensverbänden.
Marktdynamiken begünstigen dabei einflussreiche Eliten. Zeitungen und Sender gehören großen Unternehmen. Zudem wirkt sich die Abhängigkeit von Werbeeinahmen auf Medienhäuser aus. Selbst öffentlich-rechtliche Sender brauchen solches Geld. In vielen Ländern greifen konservative Kräfte ihre Legitimität an. Das prominenteste Beispiel ist derzeit die BBC.
Vermachtet war der Raum für freie Rede schon immer. Derzeit schrumpft er weiter, während Inhalte verkümmern.
Sackgasse soziale Medien
Zeitweilig schien es, die rasante Entwicklung sozialer Medien mache den öffentlichen Raum demokratischer. Heute spricht jedoch niemand mehr wie 2011 im arabischen Frühling von “Facebook-Revolutionen”. Die wichtigsten Social-Media-Plattformen gehören multinationalen Konzernen, denen es primär auf Profit, nicht demokratische Debatte ankommt. Sie behaupten, Menschen nur zu geben, was diese wollen. Vor ihren intransparenten Algorithmen sind aber nicht alle gleich. Informationen, die Facebook schaden, finden auf Facebook eher keine große Verbreitung. Andererseits scheuen die Manager politische Kontroversen – wollen aber denen gefallen, von denen sie sich die größten Werbeeinnahmen erhoffen. Dazu gehören Staat und Privatwirtschaft.
Beunruhigenderweise werden soziale Medien auch zur Verbreitung von Lügen und Verschwörungstheorien vor allem rechter Demagogen genutzt. Nicht zufällig wenden sie sich oft gegen Staatshandeln. „Freiheit“ wird zum Widerspruch gegen demokratisch legitimierte Politik zum Klimaschutz, der Corona-Bekämpfung oder der sozialen Sicherung hochstilisiert. Das dient den Interessen superreicher Eliten, welche die öffentliche Daseinsvorsorge kaum brauchen. Es schadet aber breiten Mehrheiten, die von dieser abhängen. So wird Demokratie untergraben und das bestehende soziale Gefälle verfestigt.
Bislang teilen Facebook, Twitter und Co. nicht ausreichend mit, wie sie Inhalte auf ihren Plattformen steuern. Es gab Schlagzeilen, als sie ihre Foren Anfang 2021 nach dem Sturm auf das Kapitol dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump verweigerten. Gefragt wurde, ob das Zensur war. Juristisch gesehen war es das nicht, denn Zensur wird per Definition vom Staat ausgeübt, nicht von privaten Firmen.
Zentrale Fragen
Andere Fragen erfahren weniger Aufmerksamkeit:
- Dürfen Social-Media-Plattformen mit nahezu monopolistischen Reichweiten nach Gutdünken Profite maximieren – oder müssen sie im Sinne des Gemeinwohls reguliert werden?
- Müssen die großen Plattformen für Inhalte nicht auf ähnliche Weise Verantwortung tragen wie Verlage? Schließlich bestimmen ihre Algorithmen, was auf den Bildschirmen erscheint.
- Inwiefern verstärken die Algorithmen Ansichten, die dem Management gefallen, und dimmen solche, die das nicht tun?
Die US-Senatorin Elizabeth Warren will große Internet-Unternehmen zerschlagen oder zumindest streng regulieren. Sie ist auf Social-Media-Plattformen präsent – aber hätte sie vielleicht mehr als 3,3 Millionen Follower auf Facebook, wenn sie die Interessen der Tech-Konzerne verträte? Wir wissen es nicht. Die Algorithmen sind geheim.
Klar ist aber, dass konventionelle Medienhäuser tendenziell Unternehmerinteressen unterstützen. Top-Manager haben meist bessere Presse als Gewerkschaftsvorsitzende. Nachrichten über rechtsextreme Polizisten schaffen es selten auf die Titelseite, aber selbst gewaltfreie Linke werden als gefährlich eingestuft.
Immerhin verhindert das Medienrecht in der Regel die Verbreitung von Lügen. Der öffentliche Diskurs würde davon profitieren, wenn Social-Media-Plattformen ähnliche Verantwortung übernehmen müssten wie Medienhäuser (siehe Emmalyn Liwag Kotte auf www.dandc.eu).
Zwar gibt es mittlerweile viele Faktenchecker, aber das löst das grundsätzliche Problem nicht. Sie arbeiten meist für große Medienhäuser und dienen deren Interessen. Nicht jedes wichtige Thema wird zudem überprüft. Solche, die Entwicklungsländer betreffen, erhalten vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Social-Media-Konzerne sind außerdem nicht dafür bekannt, dass sie sich für andere Sprachen als Englisch interessieren. Obendrein sind viele Themen zu komplex für eine binäre Beurteilung als „richtig oder falsch“. Schließlich sind Faktenchecker bisweilen Interessenskonflikten ausgesetzt – etwa, wenn es um die Geschäftsmodelle ihrer Arbeitgeber geht.
Whistleblower in Not
Auch wo Meinungsfreiheit herrscht, haben es Whistleblower schwer. Ein Beispiel ist der Umgang der USA mit Edward Snowden, der Geheimdienstpraktiken bekannt gemacht macht. Das war von großem öffentlichem Interesse – aber nun muss Snowden im russischen Exil leben. Viele Länder schützen zudem Whistleblower, die schmutzige Geschäftsgeheimnisse verraten, nicht hinreichend. Das wichtigste Mittel, um unbequeme Meinungen klein zu halten, ist, sie in der Themenflut der Mainstream-Medien untergehen zu lassen.
Besonders frustrierend ist die Lage in Ländern mit niedrigen Einkommen. In Westafrika findet der politische Diskurs auf Englisch und Französisch statt, obwohl viele Menschen nur afrikanische Sprachen sprechen. Nicht alle Journalisten sind professionell ausgebildet. Private Medienhäuser hängen generell von staatlichen Anzeigen ab – und dieselben Regierungen kontrollieren den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Teils informiert sich die Bevölkerung über Websites von Medienhäusern in den früheren Kolonialmächten. Diese berichten in gewissem Maß auch über Afrika, aber eben nicht detailliert über die Politik einzelner Länder. Häufig sind sie blind für das, was jenseits der Hauptstädte passiert. Auch widmen sie sich kaum den negativen Einflüssen westlicher Politik, Firmen und Streitkräfte auf Afrika.
Dass aufeinander folgende französische Regierungen in Paris einige der schlimmsten afrikanischen Regime jahrelang unterstützten, berichten französische Medien kaum – und sie kritisieren es noch seltener. Zu nennen wären etwa der Tschad unter Idriss Déby oder Burkina Faso unter Blaise Compaoré.
Ndongo Samba Sylla ist Forschungs- und Programm-Manager bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar.
ndongo.sylla@rosalux.org
Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu