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Identitätspolitik

Lippenbekenntnisse

Indiens Premier Narendra Modi sieht seine Regierung als Vorbild für gute Amtsführung. Das tun nicht alle seine Landsleute.
Mukesh Ambani’s Heim hat eine Milliarde Dollar gekostet. picture-alliance/dpa Mukesh Ambani’s Heim hat eine Milliarde Dollar gekostet.

2016 überholte Indien Japan und wurde zum drittgrößten Luftverkehrsmarkt. Die Zahl der Binnenpassagiere stieg um 24 Prozent auf über 100 Millionen. Das war ein weiterer Beleg des starken Wachstums, das Indien zu einem der wenigen Lichtblicke der düsteren Weltwirtschaft macht.

Premierminister Narendra Modi feiert den Wirtschaftserfolg als persönlichen Triumph. Er glänzt gern in internationalem Lob und gibt sich auf der globalen Bühne als stets korrekt. Vor ausländischem Publikum preist er die Nachhaltigkeits-Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs). Daheim belegt sein Handeln derweil oft eine aggressiv-populistische Haltung (siehe Schwerpunkt in E+Z/D+C e-paper 2017/02). Seine rechte Partei, die BJP, dient den Interessen der Wohlhabenden mehr als denen der Armen, deren Leid zu lindern sie verspricht.

Die BJP nennt sich nationalistisch und bestreitet, sie sei nicht inklusiv. Sie ist aber aus dem RSS hervorgegangen, einer chauvinistischen Organisation, die „Hindutva“ betont. Das bedeutet grob „Hinduhaftigkeit“ und steht für eine Ideologie, die hinduistische Hegemonie fordert und ein intolerantes Zerrbild der toleranten Religion propagiert. Viele Akteure im RSS-Netzwerk verfolgen eine Agenda, die sich gegen Minderheiten und besonders gegen Muslime und Christen richtet.

Unter Modi werden nun Schulbücher umgeschrieben, damit die religiöse Vielfalt der Unabhängigkeitsbewegung unsichtbar wird. Im ganzen Land hetzen „Kuhschützer“ gegen Muslime, für die Rindfleisch eine wichtige Proteinquelle ist. Die Regierung tut kaum etwas dagegen.

Unabhängige Organisationen, die sich kritisch zu äußern wagten, wurden weitgehend mundtot gemacht (siehe meinen Kommentar in E+Z/D+C e-Paper 2016/05). Repression ist dort besonders stark, wo die BJP auch die Landesregierung stellt. Die Unabhängigkeit der Justiz wird angegriffen.

Beim G20-Gipfel dürfte sich Modi im Juli in Hamburg leidenschaftlich für die SDGs aussprechen. Seine Partner sollten aber bedenken, dass sich sein Land trotz hoher Wachstumsraten durch extreme Ungleichheit auszeichnet und hunderte Millionen armer Einwohner hat.


Zweitgrößte Ungleichheit

Laut Credit Suisse gehören dem reichsten Prozent der indischen Bevölkerung 58,4 Prozent des Vermögens. Die Vergleichswerte für Indonesien, Brasilien, China, die USA, Südafrika und Mexiko sind niedriger. Die untere Hälfte der indischen Bevölkerung verfügt nur über 4,1 Prozent des Vermögens. Unter den G20-Mitgliedern ist die Ungleichheit nur in Russland größer. Dort besitzt das reichste Prozent 75 Prozent des Gesamtvermögens.

Indische Millionäre haben zusammen 5 600 Milliarden Dollar, während die Hälfte der 1,25 Milliardenbevölkerung in Armut lebt. Offiziell gelten aber nicht alle als arm. Aus Behördensicht gehören in den Städten nur diejenigen in diese Kategorie, deren Kaufkraft weniger als 0,42 Dollar pro Kopf und Tag beträgt.

Mukesh Ambani ist vermutlich der reichste Inder. Das Hochhaus, das er in Mumbai bewohnt, hat eine Milliarde Dollar gekostet und erfordert ein Personal von 600 Leuten. Nur einen Steinwurf entfernt sind die weltbekannten Elendsviertel, die in dem oskargekrönten Film "Slumdog Millionär" 2008 gut beschrieben wurden. Angesichts dieser gewaltigen sozialen Kluft klingt die SDG-Rhetorik der Regierung auf geradezu lächerliche Weise hohl.

Bevor er Premierminister wurde, war Modi Ministerpräsident von Gujarat. Unter ihm wurde der Bundesstaat wegen Krawallen bekannt, in denen viele Muslime ermordet wurden – und später wegen erfolgreicher Investorenanwerbung. Weniger bekannt ist aber, dass Gujarats Erfolge bei der Armutsbekämpfung mittelmäßig blieben.

Als Premier fährt Modi denselben wirtschaftsfreundlichen Kurs. 29 Staatsbanken wurden in den Finanzjahren 2014/15 und 2015/16 angewiesen, faule Unternehmenskredite im Wert von 62 Milliarden Dollar abzuschreiben. Das war mehr Geld, als die von der Kongresspartei geführte Vorgängerregierung Unternehmen in neun Jahren zuvor erließ.

Viele Ökonomen loben Modi als liberalen Modernisierer. Ihr Urteil wäre wohl weniger positiv, wenn sie derlei Subventionen berücksichtigten. Viele Banker betonen ja, Indiens hochverschuldeten Bauern dürften Schulden nicht erlassen werden, damit die „Kreditkultur“ nicht unterhöhlt wird. Modi’s radikale Politik der „Demonetarisierung“ sollte voriges Jahr Schwarzgeld bekämpfen. Sie traf Arme besonders hart und hatte zugleich eine dunkle politische Dimension. Beide Aspekte sind nur ungenügend bekannt.

Im November machte Modi 80 Prozent des Bargeldes wertlos. Plötzlich waren 500- und 1000-Rupie-Scheine ungültig. Sie konnten aber noch drei Monate lang in Bankkonten eingezahlt werden, wobei aber die Quelle des Geldes schon bei relativ kleinen Beträgen genannt werden musste. So wurde sicherlich Schwarzgeld wertlos gemacht. Diese Politik tat aber allen besonders weh, die ihr Bargeld auf faire Weise verdient hatten – beispielsweise in Indiens riesigem informellen Sektor. Auch die kleinen Ersparnisse, die viele arme Frauen über Jahre angesammelt hatten, wurden ausgelöscht. Superreiche spielen für Korruption sicherlich eine größere Rolle – sie horten Ersparnisse aber im Ausland oder in Immobilieninvestitionen.

Angeblich sollten Wahlen vom Schwarzgeld gereinigt werden. Das stand aber offensichtlich nicht auf der Agenda (siehe auch Blogbeitrag hierzu). Ja, bei den Landtagswahlen in Uttar Pradesh und einigen kleineren Bundesstaaten fehlten Parteien die Barrücklagen – nur die BJP hatte vorgesorgt. Ihre Spitzenleute wurden offenbar gewarnt und brachten laut Medienberichten ihr Geld rechtzeitig zur Bank.

Erst hieß es, alle Konten würden vor und nach der Demonetarisierung auf Schwarzgeld hin überprüft – aber bald wurden die Parteien ausgenommen. Die indische Öffentlichkeit wird also nicht erfahren, welche finanziellen Vorteile die BJP im Wahlkampf hatte. Langfristig schaffen digitale Transaktionen sicherlich mehr Rechenschaftspflicht, aber kurzfristig hat die Demonetarisierung die Regierungspartei bei Wahlen begünstigt. Es gibt auch ernstzunehmende Klagen, dass elektronische Wahlmaschinen manipuliert worden sein könnten.

Die Regierung redet von einem universellen Grundeinkommen, stellt dafür aber kein Geld bereit. Sie reduziert derweil Ausgaben, die den Armen nutzen – etwa für grundlegende Infrastruktur von Straßen bis Schulen. Durch Modis „Make in India“-Politik entstehen auch nicht dringend benötigte Jobs. Sie läuft nur darauf hinaus, ausländische Investoren anzulocken (siehe meinen Beitrag in E+Z/D+C e-paper 2016/09).

All das sollte bei der Bewertung von Indiens SDG-Politik beachtet werden. Die BJP versteht Demokratie als krude Mehrheitsherrschaft ohne viel Rücksicht auf konstitutionelle Gewaltenteilung. Die Bundesregierung gibt viel Geld aus, um für den Premierminister zu werben, aber Sozialprogramme wie die National Health Mission für Mütter und Kinder verfügen nicht über ausreichende Mittel.

Modis Charisma beeindruckt internationale Partner. Er stellt sich hinter die UN-Klimarahmenkonvention und fordert eine internationale Solar-Allianz. Zu Hause haben derweil Industriewünsche Vorrang vor ökologischen Belangen. Das Umweltministerium genehmigt praktisch alles, was Großunternehmen wollen. Solarenergie ist kommerziell attraktiv – und wird deshalb von der Regierung unterstützt.

Die SDGs sind wichtig. Wenn sie erreicht werden sollen, reichen Lippenbekenntisse im G2o-Rahmen nicht.  


Aditi Roy Ghatak ist freie Journalistin und lebt in Kolkata.
aroyghatak1956@gmail.com

 

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