Handelspolitik
Folgen der Finanzkrise
Von Kathrin Berensmann und Clara Brandi
WTO-Generaldirektor Pascal Lamy warnt immer wieder vor schleichendem Protektionismus. Zugleich aber verweist er darauf, dass bislang weniger als ein Prozent des internationalen Warenverkehrs von Handelsbarrieren betroffen seien. Dieser niedrige Gesamtprozentsatz überdeckt allerdings die viel erheblicheren Folgen der durch die Krise ausgelösten Handelshemmnisse: Aktuelle Analysen zeigen, dass der Handel mit einzelnen Gütern um mindestens fünf bis neun Prozent eingebrochen ist.
Das Ausmaß der Handelshemmnisse im Zuge der Krisenbewältigung wird sehr unterschiedlich bewertet. Das kommt in zwei wichtigen Studien zum Ausdruck: Dem Bericht von WTO, OECD und UNCTAD zufolge hält sich der Protektionismus im Zuge der Krisenbewältigung in Grenzen, obgleich es einige protektionistische Maßnahmen gab (OECD, UNCTAD, WTO, 2010). Die Experten von Global Trade Alert (GTA) – einem unabhängigen Beobachtungsdienst für Handelspolitik – sind hingegen deutlich skeptischer. Die GTA-Studie, die beim Centre for Economic Policy Research veröffentlicht und von der Weltbank unterstützt wurde (CEPR, 2010), zeigt, dass seit November 2008 insgesamt nicht weniger als 692 Handelshemmnisse eingeführt worden sind.
Der erneute Aufschwung des Welthandels hat das protektionistische Sündenregister nicht verkleinert, und zahlreiche Länder führen trotz der weltweiten wirtschaftlichen Erholung neue Handelsbarrieren ein. Am stärksten richten sie sich gegen China, gefolgt von der EU und den USA. Güter aus China sind besonders oft mit Zollerhöhungen und Antidumping-Maßnahmen belastet, die sich meist gegen Produkte des Chemiesektors sowie gegen Stahl- und Eisenimporte richten, aber auch Textil- und Bekleidungsimporte betreffen. China ist zwar das einzige Entwicklungs- oder Schwellenland unter den zehn am häufigsten als Zielscheibe für protektionistische Maßnahmen betroffenen Staaten. Insgesamt aber sind Entwicklungs- und Schwellenländer von etwa zwei Fünftel der durch Krisenprotektionismus ausgelösten Exportrückgänge belastet (Evenett, 2010; Henn/McDonald, 2010).
Auch die Ärmsten trifft es: Seit November 2008 haben laut GTA-Studie 141 staatliche Maßnahmen den kommerziellen Interessen der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) geschadet. Mit Ausnahme von Tuvalu waren alle LDCs betroffen, allen voran Bangladesch, Tansania, Jemen, Senegal and Sudan. Es gibt keinen Alleinverantwortlichen dafür – allerdings gehen viele Maßnahmen auf das Konto von G20-Mitgliedern.
Die größten Sünder
Entgegen öffentlichen Bekenntnissen zu offenen Märkten haben die G20-Regierungen laut GTA durchschnittlich jeden zweiten Tag eine protektionistische Maßnahme eingeführt. Hauptakteure sind die EU inklusive Deutschland. Zu den größten Sündern zählen aber auch Entwicklungs- und Schwellenländer wie Russland, Argentinien,
Indien, und Brasilien. Das zeigt, dass die „beggar-thy-neighbour“-Maßnahme der Krise kein Nord-Süd-Phänomen ist (Evenett, 2010, 37–38). Und es verdeutlicht, dass die G20 ihr Versprechen, nicht zu protektionistischen Maßnahmen zu greifen, nicht halten.
Für die divergierenden Einschätzungen der Experten zum Ausmaß des Protektionismus gibt es verschiedene Erklärungen. Eine davon ist: Nach der Krise gab es vor allem unkonventionelle und subtile Maßnahmen, die sich nicht so einfach quantifizieren lassen. Dazu rechnet die GTA-Studie nicht nur tarifäre oder nichttarifäre Handelshemmnisse, sondern auch andere Instrumente, die den kommerziellen Interessen ausländischer Anbieter schaden – etwa Firmenrettungen aus nationalem Interesse. Die daraus resultierende Diskriminierung wird als „murky protectionism“ bezeichnet. So verteilen die Industrieländer beispielsweise zahlreiche Staatshilfen auf heimische Industrien und unterwandern so den fairen Wettbewerb.
Das Ziel von WTO-Prinzipien wie der Inländerbehandlung ist es, diesen diskriminierenden Protektionismus zu unterbinden. Was die Krise aber gezeigt hat, ist, dass die WTO-Regeln schwächer sind, als sie sein sollten. Das wirft neue Fragen für das multilaterale Handelssystem auf, zum Beispiel, ob das WTO-Prinzip der Inländerbehandlung, nach dem ausländische Firmen den einheimischen gleichgestellt werden müssen, oder das WTO-Subventionsabkommen neu überdacht werden sollte. Neue WTO-Regeln bezüglich „murky protectionism“ würden helfen, die Asymmetrie zwischen Entwicklungsländern und reichen Nationen zu verringern. Der Grund der Asymmetrie ist, dass die Entwicklungsländer sich keine großen Industriesubventionen oder andere kostspielige Formen der Unterstützung leisten können und folglich auf tarifäre Instrumente zurückgreifen müssten, die strengeren WTO-Regeln unterliegen (Evenett, 2009).
Viele der neuen Handelshemmnisse verstoßen nicht gegen die bestehenden WTO-Regeln – denn diese lassen sehr viel Spielraum für rechtmäßige Beeinträchtigungen des Handels. Viele Länder können zum Beispiel ihre Zölle substantiell erhöhen, ohne ihre in WTO-Abkommen definierten Obergrenzen zu überschreiten. Wegen der globalen Krise sollte deshalb die seit zehn Jahren laufende Doha-Verhandlungsrunde der WTO neu überdacht werden. Durch die Reduktion von Zollobergrenzen, der Eliminierung von Exportsubventionen und Spezifizierung anderer Handelsregeln würde sie den Spielraum für WTO-konforme Handelsverzerrungen substantiell verringern. Die Doha-Runde kann verhindern, dass Marktöffnungen rückgängig gemacht werden – und das ist im Interesse der Entwicklungsländer. Das gilt besonders für Entwicklungs- und Schwellenländer, deren Wirtschaft stark von Exporten abhängt.
Exporte in Entwicklungsländer haben sich zwar erholt, aber eine erneute Verschlechterung der weltwirtschaftlichen Lage (double dip-recession) würde die Nachfrage wieder senken. Zudem besteht die Gefahr von Währungskriegen weiter. Ein weltweiter Abwertungswettlauf, um sich Handelsvorteile zu verschaffen, würde aber niemandem helfen. Gerade in Krisenzeiten müssen protektionistische Maßnahmen besser beobachtet und überwacht und die multilateralen Handelsregeln gestärkt werden – in der Doha-Runde und darüber hinaus.