Lebensmittelkonzerne
Wie Freihandel Ernährungsgewohnheiten negativ prägt
Das Politikfeld Ernährung ist ein umkämpftes Terrain, wo Akteure und Initiativen der Vereinten Nationen, Regierungen, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft mit unterschiedlichen Interessen und Lösungsansätzen aufeinandertreffen. Das Spannungsfeld bewegt sich zwischen nahrungsmittelbasierten Maßnahmen (wie die Anreicherung von Lebensmitteln mit Mikronährstoffen) und ganzheitlichen Strategien. Letztere zielen darauf ab, die strukturellen Ursachen von Hunger und Fehlernährung zu überwinden und gesunde Ernährungssysteme zu fördern – zum Beispiel durch Landreformen und die Unterstützung einer bäuerlichen Landwirtschaft, die vielfältige und gesunde Lebensmittel erzeugt.
Jeder dritte Mensch weltweit leidet an einer Form von Fehlernährung: entweder an Unterernährung, Überernährung und/oder Mangelernährung, dem sogenannten „versteckten Hunger“ (siehe Beiträge von Simone Welte und von Sabine Balk im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/11). Eine problematische Rolle spielen dabei transnationale Lebensmittelkonzerne, die ihre Absatzmärkte in Entwicklungs- und Schwellenländern vergrößern wollen.
Nestlé, Coca-Cola und Unilever passen dafür ihre Produktpreise an die weniger kaufkräftige, aber große Gruppe dieser Weltbevölkerung an. Viele Menschen essen noch immer Lebensmittel, die sie selbst herstellen oder auf kleinen, lokalen Märkten kaufen. Gleichzeitig sind für viele Menschen, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, zunehmend qualitativ minderwertige, hochverarbeitete Nahrungsmittel oder einfach nur Junk Food verfügbar. Diese gaukeln zwar eine Produktvielfalt vor, sie beinhalten aber meist nur wenige, billige Inhaltsstoffe wie gesättigte Fette, Öle, raffinierte Stärke und Zucker. Mit Werbung und raffinierten Vermarktungsstrategien haben sich diese Produkte bis in entlegene Dörfer durchgesetzt.
Milchpulver statt Muttermilch
Nestlé hat bereits früh im 20. Jahrhundert einen globalen Markt für Produkte auf Milchpulver-Basis erschlossen, darunter auch Muttermilchersatzprodukte, mit teils schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit vieler Kinder in Ländern des globalen Südens. 2010 wies die WHO darauf hin, dass 1,5 Millionen Kinderleben jährlich gerettet werden könnten, wenn Frauen mehr und länger stillten und die ergänzende Ernährung verbessern würden. Dass dies nicht gelingt, daran trägt der WHO zufolge die unangemessene Vermarktung und Bewerbung von Muttermilchersatzprodukten eine Mitschuld.
Eine Untersuchung von Save the Children hat aufgezeigt, dass sechs Unternehmen, darunter Nestlé, Danone, RB, Abbott, FrieslandCampina und Kraft Heinz, Muttermilchersatz-Produkte und andere Säuglingsnahrung besonders aggressiv vermarkten.
Auch der Verkauf von Süßgetränken ist ein lukratives Geschäft. Im Jahr 2019 nahm die Coca-Cola Company weltweit rund 37 Milliarden US-Dollar ein. Die Marktführer sind Coca-Cola und PepsiCo – so auch in Mexiko, dem Land mit dem höchsten Verbrauch an kohlensäurehaltigen Erfrischungsgetränken. Rund 70 Prozent des Zuckerkonsums der Mexikanerinnen und Mexikaner erfolgt über Süßgetränke.
Seit den 1990er Jahren hat sich das mexikanische Ernährungssystem stark gewandelt, was einen überproportionalen Anstieg von Fehlernährung, Fettleibigkeit und Diabetes zur Folge hatte. Der Verkauf industriell verarbeiteter Lebensmittel, darunter Backwaren, Milchprodukte, Snacks und Junk Food, stieg jährlich um fünf bis zehn Prozent. Traditionelle, kleine Lebensmittelgeschäfte wurden verdrängt, dafür explodierte die Zahl der Supermärkte und Discounter.
In Mexiko sind sieben von zehn Erwachsenen übergewichtig oder fettleibig sowie 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Gleichzeitig ist eins von acht Kindern unter fünf Jahren chronisch unterernährt. Besonders betroffen sind Kinder in ärmeren, ländlichen Regionen. Schätzungen legen nahe, dass mehr als 40 000 Todesfälle jährlich mit dem Konsum von Süßgetränken zusammenhängen. In der Covid-19-Pandemie machen Diabetes und Übergewicht die mexikanische Bevölkerung besonders vulnerabel – dem Nationalen Institut für öffentliche Gesundheit zufolge litt ein Drittel der Personen, die an Covid-19 starben, an Diabetes und ein Viertel an Übergewicht.
Um den Konsum von Süßgetränken in Mexiko einzudämmen, erließ Mexiko als erstes Land auf dem amerikanischen Kontinent ein Gesetz zu deren Besteuerung. Dieses machte zuckerhaltige Getränke ab Januar 2014 einen Peso pro Liter teurer, was einer Preiserhöhung von etwa zehn Prozent entspricht. Die WHO und andere Organisationen empfehlen eine Besteuerung von mindestens 20 Prozent. Grund für die niedrig angesetzte Besteuerung in Mexiko war der Druck von Seiten der Industrie (siehe Sonja Peteranderl in E+Z/D+C e-Paper 2017/06, Tribüne, und Interview mit Alejandro Calvillo in E+Z/D+C e-Paper 2018/03, Schwerpunkt).
Die durch die Steuer eingenommenen Gelder sollen für Präventionsmaßnahmen eingesetzt werden. Dazu zählt beispielsweise der Bau von 40 000 Trinkwasserbrunnen in Schulen. Bis heute wurden allerdings nur 11 000 Trinkbrunnen installiert. Im Anschluss an Mexiko haben 23 weitere Länder und acht Gerichtsbarkeiten in den USA eine Steuer auf Süßgetränke verabschiedet. Allerdings waren nicht alle Versuche erfolgreich. In Kolumbien scheiterte die vorgeschlagene Steuer am Widerstand der Getränkeindustrie.
Politische Einflussnahme
Konzerne des Agribusiness und der Ernährungsindustrie haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend als Kooperationspartner im „Kampf gegen den Hunger“ und als zentrale Akteure in der globalen Ernährungspolitik etabliert. Es geht Konzernen wie Bayer, Monsanto, Nestlé oder PepsiCo nicht mehr allein darum, durch Lobbyarbeit von außen politische Strategien und Entscheidungen von Staaten oder Organisationen wie WHO oder FAO zu beeinflussen. Sie sind inzwischen selbst an Gremien und Initiativen beteiligt, in denen über Ernährungspolitik entschieden wird. Da es Regierungen und UN-Organisationen zunehmend an finanziellen Mitteln fehlt, ist die Offenheit für die Kooperation mit zahlungskräftigen Wirtschaftsunternehmen groß. Die Bedenken wegen möglicher Interessenskonflikte bei der Zusammenarbeit mit profitorientierten Akteuren werden zurückgestellt.
Eine Rolle als Türöffner für Konzerne spielt die Bill & Melinda Gates Foundation. Sie initiiert Allianzen, insbesondere sogenannte Multi-Stakeholder-Plattformen, die Konzerne und Politik zusammenbringen. Ein Beispiel dafür ist die Global Alliance for Improved Nutrition (GAIN), welche mit 600 privaten Unternehmen weltweit zusammenarbeitet, Public-Private Partnerships finanziert und aktiv für die Harmonisierung nationaler Politiken zur Nahrungsmittelanreicherung lobbyiert.
Anreicherung (Fortifizierung) wird von GAIN als „kosteneffizientestes Mittel gegen Mangelernährung“ deklariert. Damit einher geht die Forderung, mehr öffentliches Geld solle in Fortifizierungsprogramme fließen. Im Jahr 2012 versuchte GAIN, die kenianische Regierung davon abzuhalten, mit dem Breast milk Substitutes (Regulation and Control) Act 2012 eine starke Regulierung künstlicher Babynahrung einzuführen. GAIN versuchte in einem Policy Briefing, den Gesetzesentwurf zu schwächen mit dem Argument, das Gesetz würde die Umsetzung von Kenias Verpflichtungen als Mitgliedsland der Scaling Up Nutrition (SUN)-Initiative behindern.
Die Scaling Up Nutrition (SUN)-Initiative wurde im Jahr 2010 gegründet. Sie verfolgt inhaltlich eine ähnliche Agenda wie GAIN, nur dass dies im Namen und mit der Autorität von inzwischen über 50 Regierungen und UN-Organisationen wie Weltbank, UNICEF, dem Welternährungsprogramm WFP und der Weltgesundheitsorganisation WHO geschieht. Das SUN Business Network wurde 2012 von GAIN und dem Welternährungsprogramm gegründet, um das Engagement des Privatsektors in SUN zu fördern.
Mittlerweile sind in diesem mehr als 400 Firmen aktiv. Über die Unternehmen will das SUN Business Network 1,3 Milliarden Menschen zwischen 2013 und 2020 erreichen. BASF hat als Mitglied beispielsweise die Aufgabe übernommen, jedes Jahr 60 Millionen Menschen mit angereicherten Grundnahrungsmitteln zu versorgen, und Hexagon Nutrition will 100 Millionen Päckchen mit Mikronährstoffpulver in Afrika, Lateinamerika und Asien verteilen.
Eine Studie der Menschenrechtsorganisation FIAN, die die Arbeit von SUN in drei Ländern untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass SUN der Privatwirtschaft hilft, auf die öffentliche Lebensmittel- und Ernährungspolitik Einfluss auszuüben. So setzen Länder vor allem kurzfristige, technische Interventionen, von denen Unternehmen profitieren können, um. Staaten laufen so Gefahr, auf Strategien zu verzichten, die die eigentlichen Ursachen von Hunger und Fehlernährung angehen, wie Armut, Diskriminierung, niedrige Löhne, Ausbeutung, Landraub und missbräuchliche Vermarktung von Nahrungsmitteln.
Sarah Schneider ist Referentin für Ernährung bei Misereor.
sarah.schneider@misereor.de
Armin Paasch ist Referent für Wirtschaft und Menschenrechte bei Misereor.
armin.paasch@misereor.de