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Indien

In Indien wächst das Bewusstsein für gesunde Ernährung

Als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt ist Indien auch einer der wichtigsten Lebensmittelproduzenten. Dennoch können sich mehr als 70 Prozent der 1,4 Milliarden Inderinnen und Inder keine ausgewogene Ernährung leisten. Die große Frage ist: Wie kann das Land seine Bevölkerung nachhaltig ernähren? Alte Getreidesorten könnten ein Teil der Lösung sein.
Bäuerin in Rajasthan bei der Hirseernte. Bäuerin in Rajasthan bei der Hirseernte.

Indien ist einer der größten Getreideproduzenten, liefert 21 Prozent der weltweiten Milchmenge, steht an zweiter Stelle bei der Fischproduktion und an dritter Stelle bei der Eierproduktion. Allerdings sind in diesem riesigen Land auch 224 Millionen Menschen unterernährt – das ist fast ein Viertel der Gesamtzahl der Betroffenen weltweit. Das steht im UN-Bericht „The State of Food Security and Nutrition in the World 2022“.

Die Unterernährung hat dramatische Folgen. Laut Daten des indischen Gesundheitsministeriums, erhoben von 2019 bis 2021, sind mehr als 35 Prozent der indischen Kinder unter fünf Jahren aufgrund schlechter Ernährung in ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung beeinträchtigt (stunting). In Städten war die Quote 30,1 Prozent, im ländlichen Raum 37,3 Prozent. 187 Millionen indische Frauen litten an Blutarmut.

Die Ernährungssituation hat sich in Indien in den vergangenen Jahren verschlechtert. Laut einer Umfrage unter rund 6700 indischen Haushalten in 14 Bundesstaaten berichteten 2021 insgesamt 79 Prozent der Befragten, sie litten unter eine Art von Ernährungsunsicherheit. Ein Viertel der Familien sprach von „schwerer Ernährungsunsicherheit“. Diese „Hunger Watch“-Umfrage wurde von mehreren unabhängigen Organisationen durchgeführt, darunter die Right to Food Campaign und das Centre for Equity Studies.

Auch andere Quellen bestätigen diese Entwicklung. Im Welthunger-Index, den die beiden internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen Welthungerhilfe (Deutschland) und Concern Worldwide (Irland) jährlich erstellen (siehe Interview mit Mathias Mogge auf www.dandc.eu), rutschte Indien 2021 vom 94. auf den 101. Rang unter 116 Ländern ab. Es lag damit hinter den Nachbarländern Pakistan, Bangladesch und Nepal. Gründe waren die Auswirkungen der Corona-Pandemie und Missernten wegen Dürren.

Hilfe der Regierung

Als Antwort auf die Hungerkrise in der Pandemie startete die indische Regierung öffentliche Hilfsprogramme wie das Pradhan Mantri Garib Kalyan Anna Yojana. Dabei wurde Getreide kostenlos an arme Bevölkerungsschichten verteilt. Die Vertrieb stark subventionierter Grundnahrungsmittel an arme Menschen mit Berechtigungsscheinen lief zudem weiter. Heute hängen etwa 60 Prozent der indischen Bevölkerung von subventioniertem, staatlichem Getreide ab. Dabei geht es vor allem um Reis und Weizen.

Experten kritisieren, dass die Subventionen helfen, genügend Kalorien bereitzustellen, aber keine angemessene Versorgung mit wichtigen Nährstoffen wie Vitaminen und Proteinen sicherstellen (siehe Simone Welte auf www.dandc.eu). Problematisch ist auch, dass fett-, zucker- und salzhaltige Lebensmittel oft billiger sind und mehr Kalorien liefern als gesunde Lebensmittel wie Obst und Gemüse. Dürresommer und der Krieg in der Ukraine haben gesunde Lebensmittel zusätzlich teurer gemacht.

Hirse als Lebensmittel der Zukunft

Viele Ernährungsfachleute empfehlen, traditionelle Getreidesorten wie Hirse wiederzubeleben, um eine ausgewogene Ernährung zu sichern (siehe Beitrag von Silke Stöber auf www.dandc.eu). Hirse ist reich an Ballaststoffen, Eisen und bestimmten Vitaminen und wird von rund 90 Millionen Menschen in Afrika und Asien als Grundnahrungsmittel verzehrt. Dieses Getreide wird oft als „Arme-Leute-Essen“ bezeichnet.

Hirse war früher auch in Indien ein Grundnahrungsmittel. Als das Land seine Unabhängigkeit erlangte, waren noch 40 Prozent des angebauten Getreides Hirse. Dann strebte Indien im Zuge der „Grünen Revolution“ die vollständige Selbstversorgung an und konzentrierte sich auf die Steigerung der Reis- und Weizenproduktion. Die Grüne Revolution bedeutete die Umstellung der traditionellen Landwirtschaft auf moderne Produktionsmethoden mit Maschinen, Dünger und Hochertragssorten. Die Bauernhöfe bauten nun vornehmlich ertragreiche Getreidesorten an. Hirse geriet weitgehend in Vergessenheit.

Die intensive Landwirtschaft ist allerdings nicht nachhaltig, da die Produktion ressourcenintensiv, getreidezentriert und auf bestimmte Regionen begrenzt ist. Obendrein leiden die Böden unter dem exzessiven Einsatz von Dünger und Pestiziden.

Nach der Liberalisierung und Marktöffnung der 1990er-Jahre wuchs vor allem in den Städten zudem die Bedeutung verarbeiteter Lebensmittel mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt. Erst langsam wächst in der indischen Bevölkerung das Bewusstsein für gesunde Ernährung.

Wiederbelebung der Hirse

Heute wird die Qualität der Hirse wieder anerkannt. Sie enthält wertvolle Nährstoffe, hat eine kurze Reifezeit, kann in fast allen tropischen Klimazonen angebaut werden und ihr Anbau verursacht geringe CO2-Emissionen. Laut Zahlen der indischen Regierung ist die Produktion von Hirse von 14,5 Millionen Tonnen im Wirtschaftsjahr 2015/16 auf rund 18 Millionen Tonnen im Wirtschaftsjahr 2020/21 gestiegen. Indien hat 2018 sogar als „Jahr der Hirse“ gefeiert.

Seitdem haben viele indische Bundesstaaten Programme zur Wiederbelebung des Hirseanbaus initiiert. Indien hat sich bei den UN auch erfolgreich für die Ausrufung des „Internationalen Jahres der Hirse“ 2023 eingesetzt. Im Vorfeld dieses Jubiläums ermutigt die Regierung Hirse-Initiativen. Finanzministerin Nirmala Sitharaman kündigte kürzlich einen Wettbewerb für Start-ups an, um Innovationen in der gesamten Wertschöpfungskette der Hirse zu entwickeln.

Biofortifikation als Chance

Der indische Agrarwissenschaftler Mahalingam Govindaraj hat kürzliche den renommierten Norman Borlaug Field Award gewonnen. Als Angestellter von ICRISAT  (International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics) in Hyderabad leitete er Jahre lang die Züchtung und den Vertrieb von besonders ertragreichen Hirsesorten mit hohem Eisen und Zink Gehalt.

Sein Vorbild beflügelt nun weitere Bestrebungen zur Biofortifikation von Hirse. Biofortifikation bedeutet, Pflanzen so zu züchten, dass sie einen höheren Nährstoffgehalt haben.

Schätzungen zufolge werden bis 2024 mehr als 9 Millionen Inder biofortifizierte Hirsesorten verzehren. Die Landwirtschaft meldete steigende Nachfrage auch in den Städten. Die Belieferung der dortigen Märkte ist aber kompliziert, so dass die Agrarfamilien nur einen kleinen Teil des Verkaufspreises erhalten, den Endverbrauchende zahlen. Die Höfe können auch nicht so viel produzieren wie von anderen Getreidesorten, weil die Erträge pro Hektar viel niedriger sind als bei Reis oder Weizen. Es mangelt auch an Verarbeitungsinfrastruktur.

Hirse ist sicherlich nicht die Patentlösung für alle Ernährungsprobleme in Indien. Sie kann aber einen wichtigen Beitrag zur höherer Ernährungssicherheit leisten.


Roli Mahajan ist freie Journalistin und lebt im nordindischen Lucknow.
roli.mahajan@gmail.com