Leben mit Behinderung

Therapie für junge Menschen mit Behinderungen in Kolumbien

In Kolumbien ist es für junge Menschen mit Behinderungen oft schwer, medizinische Versorgung zu erhalten und an der Gesellschaft teilzuhaben. Das Projekt „Familias siguen adelante“ will dies ändern und bindet dafür auch Angehörige eng ein.
Tania während einer Therapiesitzung mit der Physiotherapeutin Lilián Beltrán. Maryann C. Reyes/Fundación Proyecto Unión Tania während einer Therapiesitzung mit der Physiotherapeutin Lilián Beltrán.

Anstrengung und Konzentration sind Tania deutlich anzusehen. Die 14-Jährige liegt bäuchlings auf einem Gymnastikball und versucht, ihren Oberkörper aufzurichten. Ihr ganzer Körper zittert, doch nach ein paar Anläufen schafft sie es. Mit breitem Lächeln blickt sie ihre Mutter Patricia an, die vor ihr auf dem Boden sitzt. Beide sind sichtlich stolz über diesen Fortschritt. Die Teenagerin hat eine spastische Zerebralparese, eine Bewegungsstörung und Muskelsteife, verursacht durch Gehirnschädigungen. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen.

Tania ist eine von rund 180 000 Kindern und Jugendlichen unter 19 Jahren mit Behinderung in Kolumbien. Hinzu kommt eine wohl erhebliche Dunkelziffer aufgrund ungenauer Datenerhebung und weil es schwierig ist, Haushalte in abgelegenen Gebieten zu befragen. Sicher ist: Jedes einzelne dieser Kinder benötigt besondere Zuwendung, Therapie und Pflege für seine individuelle Entwicklung.

Kinder mit Behinderungen haben die gleichen Rechte wie andere Kinder, beispielsweise auf Gesundheitsversorgung, Bildung und Schutz vor Gewalt und Vernachlässigung. Dies ist festgelegt im Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 (UN-Kinderrechtskonvention) und im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 (UN-Behindertenrechtskonvention). Die Unterzeichnerstaaten, zu denen auch Deutschland und Kolumbien gehören, haben sich verpflichtet, diese Rechte zu schützen und zu gewährleisten.

In der Realität sehen sich Menschen mit Behinderungen weltweit aber konfrontiert mit einer Vielzahl von Einschränkungen und Diskriminierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen. In einem von fünf Haushalten in Lateinamerika und der Karibik, die als extrem arm eingestuft werden, lebt eine Person mit einer Behinderung (Weltbank, 2021). Der Zugang zu Bildung, menschenwürdigen Arbeitsplätzen und öffentlichen Dienstleistungen ist häufig schlecht, besonders für Personen aus den unteren sozioökonomischen Schichten. Medizinische Behandlungen und Angebote zur persönlichen Unterstützung sind oft teuer, das erhöht das Armutsrisiko zusätzlich.

Erschwerter Zugang zu Leistungen

Die medizinische Versorgung für Kinder mit Behinderungen ist in vielen Ländern unzureichend. Wo vorhanden, ist sie oft kostspielig und nicht integrativ, und auf dem Land ist sie tendenziell schwächer ausgeprägt als in den Städten. Das gilt auch für Kolumbien. Dort erschweren beispielsweise Bürokratie oder Probleme bei der Terminvergabe den Zugang zu Gesundheits- und Rehabilitationsleistungen. Wenn Menschen an Rehabilitationsmaßnahmen nicht teilnehmen, liegt das oft an Geldmangel, aber auch an der fehlenden Genehmigung durch die Krankenkasse – oder daran, dass das Pflegezentrum weit entfernt liegt. Insbesondere in ländlichen Regionen fehlt es an Hilfsangeboten, Tagespflegeeinrichtungen und Therapiezentren.

Der fehlende Zugang zu adäquaten Rehabilitationsmaßnahmen hat schwerwiegende Folgen für die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder und damit für ihre Lebensqualität. Ihre Gliedmaßen werden weniger beweglich, und grundlegende Funktionen wie das Greifen verschlechtern sich. Gelenkschmerzen, Haltungsschäden und Druckgeschwüre infolge schlechter Lagerung nehmen zu. Dies erschwert die alltägliche Pflege, etwa das Baden und Ankleiden, und belastet so die Pflegeperson stärker.

Meist verrichten Angehörige die Pflegearbeit. Für viele ist das nicht nur eine große physische, psychische und emotionale Belastung, sondern birgt auch ein Armutsrisiko. Häufig übernehmen Mütter die Pflege des Kindes und kümmern sich zudem um den Haushalt. Da dies oft mit Einnahmeausfällen verbunden ist, die Familien aber dafür kaum monetäre Unterstützung vom Staat erhalten, ist die finanzielle Belastung hoch.

Patricia hat diese Schwierigkeiten selbst erlebt. Sie suchte für Tania vergeblich nach einem Tagespflegeplatz. Ihr niedriges Gehalt erlaubte es ihr auch nicht, eine Pflegekraft einzustellen, die sich tagsüber kümmern könnte. Schließlich gab die gelernte Krankenpflegerin ihre Arbeit in einer Arztpraxis auf und widmete sich ganz der Pflege und Förderung ihrer Tochter. Doch irgendwann stiegen die Kosten für Lebensmittel, Medikamente, Arztbesuche und Hilfsmittel so stark an, dass ihre niedrigen Einkünfte durch kleinere Nebentätigkeiten nicht mehr ausreichten. Schließlich zog ihre 70-jährige Mutter zu ihr, um sich um ihre Enkelin zu kümmern. Patricia nahm eine Stelle als Küchenhilfe an.

Projekt unterstützt Familien

Patricias Arbeitgeberin ist die Stiftung Fundación Proyecto Unión, eine Non-Profit-Organisation, die sich für soziale Inklusion einsetzt. In der Gemeinde Tocancipá im Bundesstaat Cundinamarca, nördlich der Hauptstadt Bogotá, betreibt sie ein Projekt namens Casa de los Ángeles. Es bietet verschiedene Unterstützungsleistungen für Familien, darunter auch für Kinder mit Behinderungen. Beispielsweise können dort Familien kostenlos unterkommen, wenn schwer erkrankte Kinder aus entlegenen Gebieten für medizinische Behandlungen nach Bogotá gebracht werden.

Seit März 2023 betreibt die Stiftung ein weiteres Projekt, um das Problem anzugehen, dass Zugänge zu Therapieangeboten für Kinder mit Behinderungen fehlen. Es heißt „Familias siguen adelante“, was sinngemäß bedeutet, dass Familien trotz Schwierigkeiten durch Beharrlichkeit weiterkommen. Es handelt sich um ein kostenloses Therapie- und Rehabilitationsprogramm für derzeit 24 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von zwei bis 28 Jahren mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) fördert es mit 10 000 Euro, verwaltet durch die Stiftung Nord-Süd-Brücken. Empfängerin der Fördermittel ist die deutsche Hilfsorganisation Friends of Angels Germany, die das Projekt gemeinsam mit Fundación Proyecto Unión noch bis Ende Januar 2024 umsetzt.

Die Teilnehmenden wohnen in Tocancipá, in der benachbarten Gemeinde Sopó oder in umliegenden Dörfern. Sie hätten ohne das Projekt keinen Zugang zu vergleichbaren Therapieangeboten. „Familias siguen adelante“ zielt darauf ab, ihre individuelle Entwicklung zu fördern, ihre Mobilität zu verbessern und ihnen mehr Selbstständigkeit und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Dafür erhalten sie drei Monate lang zweimal wöchentlich eine Einzelstunde Ergo- und Physiotherapie.

Einbindung der Betreuenden

Der Fokus liegt zugleich auch auf dem Umfeld: Die Familien sind aktiv in die Rehabilitation einbezogen. An jeder Therapiestunde nimmt eine Pflegeperson teil; so kann sie zu Hause das Training fortführen und die Fortschritte festigen. Es liegt auf der Hand, dass kompetente Betreuungspersonen maßgeblich zur sozialen Teilhabe eines Kindes mit Behinderung beitragen können. Da die finanzielle Situation der Familien meist prekär ist, erstattet das Projekt die Transportkosten für die Teilnehmenden und je eine Pflegeperson.

„Ich sehe die Eltern als meine Ko-Therapeut*innen“, erklärt Lilián Beltrán, die Physiotherapeutin des Programms. „Es hilft mir sehr zu verstehen, wie der Alltag in der Familie aussieht und welche Routinen die Kinder und Eltern gemeinsam gefunden haben, damit bestimmte tägliche Abläufe besser funktionieren. So kann ich die Behandlung ganz auf die individuellen Bedürfnisse abstimmen und ich lerne auch jedes Mal etwas Neues von ihnen.“

Für Patricia zeigt das Projekt Wirkung. „Ich habe bei Tania viele positive Veränderungen bemerkt“, berichtet sie. Ihre Tochter sei aufmerksamer und suche stärker die Interaktion mit anderen Kindern. Zudem mache sie auch körperliche Fortschritte, das erleichtere besonders die Pflege im Alltag, etwa das Anziehen oder Waschen.
Projekte wie „Familias siguen adelante“ zeigen, wie wichtig es ist, für junge Menschen mit Behinderungen und ihre Familien kostenlose Therapien anzubieten. Regierungen weltweit müssen ihre Anstrengungen für mehr Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen verstärken, damit diese die gleichen Rechte wie ihre Altersgenossen ausüben und ihren eigenen Lebensweg finden können.

LINKS

Fundación Proyecto Unión:
https//www.proyectounion.org

Friends of Angels Germany:
https://www.friendsofangels.de

Weltbank, 2021: Disability inclusion in Latin America and the Caribbean: A path to sustainable development. Washington D.C.
https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2021/12/02/la-inclusion-de-las-personas-con-discapacidad-clave-para-el-desarrollo-sostenible-de-america-latina-y-el-caribe

Sarah Grünewald ist erste Vorsitzende des Vereins Friends of Angels Germany.
verwaltung@friendsofangels.de