Saudi-Arabien
Wie reformfähig ist das Königreich?
In den vergangenen 70 Jahren hat der Erdölreichtum den armen Wüstenstaat in eine konsumorientierte Rentenökonomie verwandelt. Die saudische Bevölkerung kommt in den Genuss eines Wohlfahrtssystems, ohne nennenswerte Steuern oder Abgaben zu zahlen. Die einfachen Arbeiten verrichten Arbeitsmigranten, während sich die Saudis auf gut bezahlten Posten im öffentlichen Sektor eingerichtet haben. Alle Macht geht von der Königsfamilie aus, die unbeirrt an ihrer absoluten Monarchie festhält. Die Bevölkerung erträgt die politische Unmündigkeit, solange ihr Wohlstand nicht angetastet wird.
Der Reichtum steht jedoch auf wackeligen Beinen, nicht nur wegen des schwankenden Ölpreises. Solange die Einwohnerzahl noch niedrig war, konnte der Staat großzügig Wohltaten verteilen. Mit zunehmender Bevölkerung wird dies schwieriger. Heute leben rund 31 Millionen Menschen in Saudi-Arabien; 1960 waren es noch fünf Millionen.
Mit der „Vision 2030“ hat sich die Regierung ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2020 soll der Nichtölsektor um das Dreifache wachsen. Die Herausforderung ist gewaltig, schließlich generiert Öl bislang 90 Prozent der Staatseinnahmen. Die bislang staatlich dominierte saudische Wirtschaft wird für den Privatsektor geöffnet, um zusätzliches Kapital zu mobilisieren und auch um die Überbeschäftigung im öffentlichen Sektor abzubauen. Als zukunftsträchtig werden Sektoren wie erneuerbare Energie, Bergbau, Infrastruktur, Transport und Tourismus angesehen. In das Bildungswesen soll dahingehend investiert werden, dass mehr Arbeitskräfte für Tätigkeiten im Nichtölsektor qualifiziert werden. Des Weiteren will die Regierung die Beschäftigung von Frauen fördern, um deren mittlerweile hohes Ausbildungsniveau in Wert zu setzen. Schließlich sollen mehr Arbeitsplätze für die wachsende Bevölkerung geschaffen werden. Bereits 2011 war ein System von Quoten, Anreizen und Sanktionen eingeführt worden, mit dem private Unternehmen angehalten werden, vermehrt saudische Arbeitskräfte einzustellen.
Die Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor müssen hingegen deutliche Einschnitte hinnehmen, die Gehälter sind stark gekürzt worden. Des Weiteren sollen die großzügigen Subventionen unter anderem für Strom, Wasser und Benzin massiv gesenkt werden. Die vorgesehene Einführung der Mehrwertsteuer wird zusätzliche Staatseinnahmen generieren. Auf diese Weise soll das sehr hohe Haushaltsdefizit abgebaut werden. Die fiskalische Konsolidierung wird die ohnehin angeschlagene Wirtschaft bremsen. Einen starken Wachstumsimpuls erwartet die Regierung indessen durch den Verkauf von mindestens fünf Prozent des Aktienanteils des staatlichen Ölunternehmens Saudi Aramco. Wenn überhaupt, dürfte sich diese Transaktion aber erst mittelfristig auf das Wirtschaftswachstum auswirken.
Die treibende Kraft hinter der Reformagenda ist Mohammed bin Salman, der 31-jährige Königssohn, den der Herrscher gerade von Platz zwei auf Platz eins der Thronfolge befördert hat. Der künftige König gilt als Modernisierer, steht aber auch für eine aggressive Außenpolitik. Als Verteidigungsminister zettelte er den seit 2015 erbittert geführten Krieg gegen die Huthi-Miliz im Jemen an.
Die „Vision 2030“ ist sowohl hinsichtlich der zeitlichen Perspektive als auch des Umfangs der geplanten Veränderungen sehr ambitiös. Jede einzelne Maßnahme mag für sich gesehen ökonomisch rational sein. Das Zusammenwirken der verschiedenen Reformschritte hingegen kann zu einem politisch explosiven Gemisch werden. Die an Wohlstand gewöhnte saudische Bevölkerung muss sich auf die größten sozialen Einschnitte seit Jahrzehnten einstellen. Zudem werden in der erzkonservativen Gesellschaft gleich mehrere Tabus gebrochen. So bleibt abzuwarten, wie die wahabitische Geistlichkeit reagieren wird, wenn vermehrt Frauen einer Berufstätigkeit nachgehen. Und den Saudis dürfte es schwerfallen, künftig auch Arbeiten auszuführen, die bisher Immigranten erledigten. Die Kombination aus Sozialabbau, gefühltem Statusverlust und möglichen Interessenkonflikten mit der Geistlichkeit bei zugleich geringem Wirtschaftswachstum könnte bei konsequenter Umsetzung der Reformagenda erhebliche Unruhe in der Bevölkerung auslösen, für das es kein demokratisches Ventil gibt. Es kann nicht gelingen, die Wirtschaft grundlegend zu reformieren, ohne das erstarrte gesellschaftliche und politische System von seinen Fesseln zu befreien.
Nassir Djafari ist Ökonom und freier Autor.
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