Islamische Wohlfahrt
Berührungsängste abbauen
Die Insani High School in der südlibanesischen Stadt Saida befindet sich noch im Rohbau und ist dennoch bereits in Betrieb. Und das, obwohl es Juni und damit eigentlich schon Ferienzeit ist. Warum, erklärt Schuldirektor Rami Halloum: „Wir sind eine Schule nur für syrische Flüchtlingskinder, und wir bieten jetzt Nachhilfe und Vertiefungskurse.“ Das muss sein, denn viele Schüler haben wegen des Krieges und ihrer Flucht Wissenslücken.
Auch Rami Halloum stammt aus Syrien. Er leitete bis zum Beginn des Krieges in seiner Heimatregion Homs ein Gymnasium. 2012 musste er seine Stadt verlassen. Dass er nun im Libanon wieder an seine berufliche Erfahrung anknüpfen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Nur etwa ein Drittel der Flüchtlingskinder besuchen libanesische Schulen. Viele haben große Schwierigkeiten, etwa weil sie nicht von klein auf Englisch und Französisch in der Schule hatten. Die meisten Flüchtlingskinder können mangels Geld oder freien Plätzen in keine libanesische Schule gehen.
Die syrische Insani High School, die bis zum Abitur führt, bietet eine seltene Alternative. Normalerweise dürfen Syrer im Libanon keine Schulen eröffnen. Dass es in diesem Fall doch möglich wurde, ist dem „Higher Islamic Council“ zu verdanken, der höchsten sunnitisch-islamischen Autorität im Libanon. Rami Halloum erläutert: „Wir dürfen für einen begrenzten Zeitraum unter dem Dach dieses Verbandes unsere eigene Schule betreiben.“
Schule lebt von Spenden
Der Lehrplan der Schule folgt den offiziellen libanesischen Richtlinien. Staatliche Unterstützung gibt es nicht. Finanziell ist die Schule nahezu ausschließlich auf Spenden angewiesen. Das Gros der Spenden stamme bislang aus Qatar und von syrischen und libanesischen Privatleuten im In- und Ausland, sagt Rami Halloum. Davon würden die Gehälter der Lehrkräfte und die meisten Ausgaben bestritten. Elternbeiträge spielen nur eine geringe Rolle. „Familien, die es sich leisten können, zahlen für die Schule und den Schulbus. Aber kein Kind soll von Bildung ausgeschlossen werden, nur weil die Eltern nicht das Geld dafür haben.“
Rund 400 syrische Flüchtlingskinder haben dank der Insani-Schule in Saida bislang die Chance auf ein international anerkanntes Abitur; die Zahl soll weiter steigen. Die Schule ist ein typisches Praxisbeispiel für islamische Wohlfahrt – eine Initiative, die zweifelsohne mehr Aufmerksamkeit und Hilfe gebrauchen könnte. Doch nichtarabische Unterstützung ist für die Schule bislang kaum in Sicht.
Kooperationen zwischen islamischen Wohlfahrtsinstitutionen und internationalen Entwicklungsorganisationen gibt es mittlerweile häufiger als früher, aber insgesamt sind sie immer noch die Ausnahme. Internationale Nichtregierungsorganisationen (NGOs) räumen ein, dass islamische Akteure wichtige soziale Dienste leisten und dass sie zum Teil leichteren Zugang zu bestimmten Zielgruppen haben. Doch sie unterstellen vielen islamischen Akteuren implizit oder explizit, dass sie wichtigen Kriterien für eine Partnerschaft nicht genügten. Dazu zählen:
- mangelnde Transparenz bei Finanzierung und Projektimplementierung,
- die Furcht vor versteckten Zielsetzungen wie religiöse Missionierung oder Propaganda und
- die mangelnde Kompatibilität islamischer Prinzipien mit internationalen Menschenrechten.
Solche Vorwürfe sind teilweise berechtigt, denn viele islamische Organisationen lehnen die Menschenrechte ausdrücklich ab, und sie legen nicht offen, woher und wofür sie Geld bekommen. Manche großen islamischen NGOs wie die saudische „Islamische Weltliga“ haben unter dem Deckmantel von Entwicklungshilfe jahrzehntelang zweifelhafte Missionstätigkeiten betrieben und radikalislamische Propaganda verbreitet. Aber das sollte kein Grund sein, islamische Wohlfahrt und internationale Partnerschaft auszuschließen.
Gutes Tun und Nächstenliebe sind im Islam eine religiöse Pflicht. Diese leitet sich sowohl aus dem Koran als auch aus der sogenannten Sunna, der Überlieferung des Propheten Mohammed, ab. Zwar gibt es im Islam keine der christlichen Tradition vergleichbare Soziallehre, aus der sich ein karitativer Auftrag für die Gemeinden ableiten lässt. Aber der Islam kennt allgemein verbindliche Aspekte und Rechtsinstitutionen der religiös begründeten Fürsorge. Diese werden in den Alltag und teilweise auch in moderne staatliche Institutionen integriert.
Zu den sogenannten fünf Säulen des sunnitischen Mehrheitsislams gehört die Zakat, eine jährliche Almosenzahlung, die Gläubige meist im Ramadan entweder an Moscheen, an Mittlerorganisationen oder direkt an Bedürftige tätigen. Über die genaue Höhe und die Berechnungsgrundlagen der Zakat gehen die Meinungen islamischer Rechtsgelehrter auseinander. Doch in der Regel ist die Almosenabgabe so bemessen, dass die Zahlungspflichtigen den entsprechenden Teil ihres Einkommens oder Vermögens mühelos aufbringen können. Nur in wenigen islamisch geprägten Ländern (etwa Saudi-Arabien) ist die Almosenabgabe Zakat in das staatliche Steuersystem integriert. In einigen Staaten (wie Jordanien) wird die jährliche Almosenabgabe von Komitees überwacht, die dem jeweiligen Religionsministerium unterstellt sind. Muslime, die in Ländern mit nichtmuslimischer Bevölkerungsmehrheit leben, berechnen ihre Zakat-Abgabe oft selbst, wobei sie heute auch auf automatisierte Rechner im Internet zurückgreifen können.
Ein weiteres wichtiges Instrument der islamischen Wohlfahrt sind die sogenannten religiösen Stiftungen (arabisch Waqf/Plural Awqaf, in Nordafrika auch Habbous). Dabei handelt es sich traditionell vor allem um unbewegliche Güter wie Grundstücke oder Immobilien, die Gläubige entweder zu Lebzeiten oder per Testament an Moscheegemeinden oder Treuhänder übereignen. Sie haben die Auflage, dass sie ihre Gewinne für bestimmte soziale Zwecke nutzen, wie den Betrieb von Waisenhäusern, Krankenhäusern oder Schulen.
Die islamische Wohlfahrt und ihre Institutionen weckten in den vergangenen Jahren zunehmend das Interesse internationaler staatlicher und nichtstaatlicher Entwicklungsorganisationen. Das hat verschiedene Ursachen:
- Der relativ große finanzielle Umfang arabischer Entwicklungshilfe und der Wunsch, diese stärker mit den Gebergemeinschaften zu koordinieren,
- Kürzungen der Etats internationaler staatlicher Entwicklungshilfe und die damit verbundene Suche nach alternativen Geldgebern,
- wachsende politische und wirtschaftliche Bedeutung islamischer Akteure weltweit,
- die Annahme, dass islamische Akteure teilweise leichteren Zugang zu bestimmten Zielgruppen haben und dass sie effizienter arbeiten,
- der Wunsch nach mehr Einblick in Finanzflüsse
- islamischer Akteure im Rahmen von Terrorbekämpfung.
In Deutschland beschloss das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 2004 ein Memorandum of Understanding mit dem weltweit in islamischen Ländern tätigen, schiitisch-ismailitisch geprägten Aga Khan Development Network. Dieses bildete die Grundlage für diverse Projektkooperationen. Ab 2009 lief ein gemeinsames Projekt des BMZ mit dem sunnitisch geprägten Arab Gulf Fund for Development (AGFUND), einer multilateralen Geberkoordination mit Sitz in Riad, Saudi-Arabien.
Die GIZ bearbeitet das Thema seit Anfang der 2000er Jahre auf verschiedenen Ebenen. Seit November 2014 führt die GIZ im Auftrag des BMZ ein Sektorvorhaben „Werte, Religion und Entwicklung“ durch. (https://www.giz.de/fachexpertise/downloads/Final_Factsheet_SV_Werte_Religion_Entwicklung.pdf.) Auch nichtstaatliche Akteure nehmen sich des Themas an: Brot für die Welt und Misereor initiierten Dialoge mit islamischen Hilfsorganisationen wie „Islamic Relief“. Der Menschenrechtsaktivist Rupert Neudeck gründete gemeinsam mit Christen und Muslimen die Freiwilligenorganisation „Grünhelme“.
Mehr Partnerschaft
Trotz einer gewissen Öffnung und gemeinsamer Projekte ist die Zusammenarbeit mit islamischen Organisationen weiterhin zögerlich. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen gibt es prinzipielle Bedenken, dass eine Zusammenarbeit einer Islamisierung von Diskursen und Praktiken Vorschub leistet. Zum anderen ist angesichts der politischen Verhältnisse und der religionspolitischen Dominanz des Staates in den entsprechenden Ländern das Spektrum möglicher Maßnahmen begrenzt. Viele GIZ-Projekte, die gezielt mit islamischen Akteuren arbeiten, sind bislang vorwiegend in der Bewusstseins- und Bildungsarbeit angesiedelt wie etwa Umweltschutzbildung mit Imamen in Algerien und Jordanien oder Stärkung von Frauenrechten.
Ein Beispiel für die Berührungsängste zwischen nichtreligiösen und islamischen Akteuren zeigt sich aktuell bei der internationalen Hilfe für syrische Flüchtlinge. Die meisten der rund 4 Millionen syrischen Flüchtlinge haben in den Nachbarländern Jordanien, Libanon und Syrien Zuflucht gesucht. Dort erhalten sie Unterstützung sowohl von UN-Organisationen und internationalen NGOs als auch von lokalen und regionalen religiösen Organisationen, wobei muslimische Organisationen und Geber eine wichtige Rolle spielen.
Die islamischen Nothilfeorganisationen füllen oftmals Lücken: Anders als die großen internationalen Organisationen stehen sie den Menschen kulturell nahe, sie kennen ihre Werte und Traditionen, und sie arbeiten flexibel, das heißt, sie gehen auch in entlegene ländliche oder unsichere Gegenden.
Eine Kurzstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2014 schildert unter anderem am Beispiel Jordanien das Nebeneinander von Vereinten Nationen, staatlichen und nichtstaatlichen islamischen Akteuren. Die Autorin Sarah Hasselbarth schreibt, dass es in Jordanien informelle Kontakte zwischen dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der salafistischen Hilfsorganisation „Al Kitab Wa Al Sunna“ gebe; ferner koordiniere das Kinderhilfswerk UNICEF punktuell Aktivitäten mit der islamischen NGO „Markaz Al Islami“, die den jordanischen Muslimbrüdern nahestehe.
Doch obwohl alle Akteure die gleichen Zielgruppen bedienten, gibt es bislang laut Hasselbarth wenig Zusammenarbeit. Schuld sei ein beiderseitiges tiefsitzendes Misstrauen. Die Autorin räumt ein, dass die unterschiedlichen Wertvorstellungen zwischen den nach den Grundsätzen der Menschenrechte agierenden UN-Institutionen und den auf Gottes Recht (Scharia) basierenden islamischen Hilfsorganisationen kaum zu vereinen seien. Dennoch sei es wichtig, die islamischen NGOs nicht auszugrenzen, sondern sie einzubinden, zum Beispiel über Fortbildungsangebote und andere vertrauensbildende Maßnahmen.
Martina Sabra ist freie Journalistin und entwicklungspolitische Gutachterin.
martina.sabra@t-online.de
Links:
Sarah Hasselbarth: Islamic Charities in the Syrian Context in Jordan and Lebanon.
http://library.fes.de/pdf-files/bueros/beirut/10620.pdf
Islamistische und jihadistische Akteure in den Partnerländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit:
http://www.giz.de/fachexpertise/downloads/giz2013-islamistische-akteure-2013.pdf
Scharia und Entwicklungszusammenarbeit:
http://www.giz.de/expertise/downloads/giz2013-scharia-entwicklungszusammenarbeit.pdf
Factsheet Sektorvorgaben „Werte, Religion und Entwicklung“. (BMZ-GIZ 2014-2017).
https://www.giz.de/fachexpertise/downloads/Final_Factsheet_SV_Werte_Religion_Entwicklung.pdf.