Familie in Not

Im informellen Sektor sind Covid-19-Sorgen unerschwinglich

Indiens arme Menschen sind erleichtert, dass sie nach fünf Monaten Lockdown wieder Geld verdienen können. Die Infektionsgefahr bleibt furchterregend, aber der Absturz in noch tiefere Armut ist bedrohlicher. Für viele Menschen dürfen Gesundheitssorgen ihren Arbeitseinsatz auf keine Weise beeinträchtigen lassen.
Slum in Kolkata. dem Slum in Kolkata.

Radha ist ein zwölf Jahre altes Mädchen. Sie hilft ihrem Vater in einem kleinen informellen Tee-Stand in einem Vorort von Kolkata: zwei Hocker und eine Kochecke unter einer schwarzen Plastikplane, die an einem Stock und dem Zaun eines Bürokomplexes hängt. Vater Vishvajeet nahm den Betrieb nach fünf Monaten Lockdown wieder auf, merkte dann aber schnell, dass die Stammkunden – junge Angestellte aus nahegelegenen Büros – weiterhin zu Hause arbeiten.

Er verdient knapp 2000 Rupien im Monat – weniger als ein Drittel der Einnahmen vor der Pandemie. Er ist aber froh, dass der Lockdown vorbei ist und nur noch ein paar Einschränkungen gelten – die Maskenpflicht zum Beispiel. Im Lockdown war er auf Ersparnisse angewiesen, die aber nach zwei Monaten weitgehend aufgezehrt waren.

Radhas Mutter Sudha konnte derweil kaum Geld verdienen. Sie arbeitet normalerweise als Haushaltshilfe für wohlhabende Familien in Kolkata. Ihr wurde aber gesagt, sie solle nicht mehr kommen, denn sie könnte ja infiziert sein. Einige Auftraggeber bezahlten sie weiter, aber viele taten es nicht. Mittlerweile nehmen ein paar Kunden ihre Dienste wieder in Anspruch.

Allerdings sind viele der Wohnungen, in denen sie früher arbeitete, jetzt menschenleer und verriegelt. Die jungen Mieter sind zu ihren Familien heimgekehrt und dürften erst zurückkommen, wenn Hochschulen und Büros wieder Normalbetrieb haben.

Das kann noch dauern. Viele Schulen und Colleges sind zum Online-Unterricht übergegangen. Die wachsende Bedeutung des Internets grenzt Familien wie Radhas zusätzlich aus, denn sie sind digital nun mal schlechter ausgestattet als Mittelschichtsangehörige. Radhas Eltern konnten auch das Geld für die kleine Privatschule, die sie besucht, nicht weiter bezahlen. Wie viele benachteiligte Inder trauen sie staatlichen Schulen nicht zu, den Nachwuchs ordentlich auszubilden (siehe hierzu meinen Beitrag im Schwerpunkt von E+Z/D+C e-Paper 2019/05). Wann Radha wieder unterrichtet wird, ist offen.

Die Angst vor Corona ist weniger schlimm als die, kein Geld zu verdienen. „Wie lange können wir sie uns leisten?“, fragt Sudha. Viele ihrer Nachbarn bekämen Fieber, aber – egal, was geschehe – Geld brauchten alle. In ihren Augen bekommt Covid-19 nur, „wer es sich leisten kann“. Richtig ist, dass Krankheiten armer Menschen fast nie professionell diagnostiziert werden, sodass „Fieber“ als Todesursache gilt. Nur Wohlhabende erfahren, ob ihre Angehörigen an Malaria, Covid-19 oder einer anderen Krankheit leiden.

Die indische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Das Bruttoinlandsprodukt dürfte dieses Jahr um 10,3 Prozent schrumpfen. Die Ökonomen vom CMIE (Centre for Monitoring the Indian Economy) schätzen, dass von Mai bis August allein 6,6 Millionen hochqualifizierte Bürojobs gestrichen wurden. Besonders hart trifft die Krise aber alle die, die von informeller Arbeit abhängen.


Roli Mahajan ist eine freie Journalisten. Sie lebt in Delhi und Kolkata.
roli.mahajan@gmail.com