Unsere Sicht
Kampf mit dem Ich
„Identität“ ist einer der Begriffe, die inflationär verwendet werden, ohne dass vollkommen klar wäre, was damit gemeint ist. Das liegt in der Natur der Sache: Kaum ein Konzept ist derart schwer zu fassen, aber gleichzeitig so konstituierend für das eigene Selbst.
Der Psychoanalytiker Erik Erikson schrieb, Identität vereine zwei – unter Umständen widersprüchliche – Dinge: wie andere mich sehen, und wie ich mich selbst sehe. Identität unterscheidet mich von anderen und macht mich im selben Moment mit anderen gleich.
In Bezug auf die Gesellschaft bedeutet das: Identität impliziert sowohl Einordnung in sie als auch Abgrenzung von ihr. Damit ist klar, warum mit Identitäten Politik gemacht wird.
Identitätspolitik ist durchaus berechtigt, wo sie hilft, gegen die Unterdrückung einer Vielzahl von Gruppen auf der ganzen Welt vorzugehen. Sie ist aber fehlgeleitet, wenn sie Inklusion verhindert und benachteiligte Gruppen gegeneinander ausspielt. Soziale Gerechtigkeit rückt in weite Ferne, wenn etwa in den USA weiße Menschen mit niedrigen Einkommen gegen die Schwarze Bevölkerung aufgebracht werden – oder Sozialhilfeempfänger*innen in Europa gegen Migrant*innen ausgespielt werden.
Rechtspopulistische Parteien sind Meister darin. Gleichzeitig schaffen sie es, Gruppen von sich zu überzeugen, die unter rechtspopulistischen Regierungen erhebliche Nachteile zu befürchten hätten. Multimilliardär Donald Trump gibt sich in den USA als Stimme der Nichtprivilegierten aus und verzeichnet steigende Unterstützung von Schwarzen und Hispanics. In Deutschland machen Frauen 44 Prozent der potenziellen Wählerschaft der Partei Alternative für Deutschland (AfD) aus – obwohl die Partei in ihren Programmen unter anderem von der Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen spricht und die Gender-Pay-Gap leugnet.
Klassenkampf und Identität
Ein Teil des identitätspolitischen Erfolgs von Rechtspopulist*innen liegt auch darin, dass sie einfache Antworten auf schwierige Fragen bieten. Linke Politik differenziert dagegen teilweise bis zur Fragmentierung, was ihr vielerorts aktuell zum Verhängnis wird.
Komponenten einer Identität müssen zusammengedacht werden, weil kein Mensch nur eine Identität hat und sich Identitäten mit der Zeit wandeln. Gender ist verbunden mit Hautfarbe, Ethnizität oder Klasse ebenso wie mit sexueller Orientierung, Sprache, Religion oder physischer und psychischer Gesundheit. In dieser Identitätsvielfalt liegt gleichzeitig die Chance zu übergreifender Solidarität: Menschen verschiedener Hautfarbe schließen sich in Gewerkschaften zusammen, afrikanische Frauen verschiedener Ethnien treten gemeinsam für ihre Rechte ein, und Sprachgemeinschaften in Indien agieren kastenunabhängig.
In Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas richtet sich Identitätspolitik zugleich oft an einzelnen Markern aus. In Indien agitiert Präsident Narendra Modi gegen religiöse Minderheiten, während in vielen afrikanischen Ländern Tribalismus nach wie vor alltägliches Leben prägt und die ethnische Herkunft Wahlen entscheiden kann.
Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) zu erreichen, muss Gleichstellung in den Mittelpunkt politischen Handelns rücken. Nachhaltige Veränderung gelingt nur, wenn alle mitmachen – in der Überzeugung, trotz aller Unterschiede gleichberechtigt zu profitieren.
Katharina Wilhelm Otieno ist Redakteurin bei E+Z/D+C.
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