Ausgefallener Impfschutz

"Genozidale Rhetorik ist weit verbreitet"

In Gaza ist der erste Fall von Polio seit 25 Jahren ein fürchterliches Beispiel dafür, was der Zusammenbruch des Gesundheitswesens in Kriegszeiten bedeutet. Das Desaster ist menschengemacht, und Israel trägt Verantwortung, urteilt Chris Whitman von medico international.
Polioimpfung in einem Flüchtlingslager in Gaza am 2. September 2024. picture alliance / Xinhua News Agency | Marwan Dawood Polioimpfung in einem Flüchtlingslager in Gaza am 2. September 2024.

Lässt sich Polio angesichts der verheerenden Kriegszerstörung überhaupt eindämmen? 

In gewisser Weise ja, in anderen nicht. Wie der Krieg geführt wird, spielt eine Rolle. In Gaza leben die Menschen dicht gedrängt. Die meisten Angriffe sind Luftschläge, es kommt kaum zu Berührungen zwischen Bodentruppen und Zivilbevölkerung. Es ist unmöglich Gaza zu verlassen. Folglich wird der Polioausbruch höchstwahrscheinlich geografisch begrenzt bleiben. Das wäre in der Ukraine wahrscheinlich anders, wo Bodentruppen beider Seiten eine größere Rolle spielen und es zu Kontakten mit der Zivilbevölkerung kommt. Obendrein ist das Kriegsgebiet dort viel größer und mehr Menschen sind betroffen. In Gaza selbst ist der Polioausbruch aber sehr gefährlich. Seit Kriegsbeginn wurden dort rund 60 000 Babys geboren. Weil das Gesundheitswesen kollabiert ist, haben die meisten nicht den nötigen Impfschutz. Diese Krankheit bedroht Kinder im Alter bis zu fünf Jahren besonders, weshalb früh geimpft werden sollte. Im Gazastreifen gibt es 300 000 bis 400 000 Kinder in dieser Altersgruppe. Vor dem Krieg gab es 25 Jahre lang keinen Fall von Kinderlähmung. Dass sie nun wieder aufgetreten ist, ist ein fürchterliches Signal.  

Weshalb konnte sie nach so langer Zeit wieder auftreten? 

Um Polio komplett auszurotten, muss jedes Kind zweimal geimpft werden. Wer nur eine Dosis bekommt, wird zwar selbst nicht krank, kann aber – falls infiziert – andere auch nach vielen Jahren noch anstecken. Polio endgültig zu besiegen, ist also eine langfristige Aufgabe. Wenn Eltern jedoch wissen, dass ihre Kinder sicher sind, achten sie oft nicht ausreichend auf die zweite Impfung, besonders dann nicht, wenn ihr Alltag sie ohnehin stark auszehrt – was in Gaza seit langem gilt. Sie konzentrieren sich dann auf dringendere Dinge. Wichtig ist auch, dass Polio sich in unhygienischen Kontexten schneller verbreitet, und nach der massiven Kriegszerstörung ist die sanitäre Lage im Gazastreifen heute katastrophal. 

Reicht die kurze Waffenruhe für die Impfkampagne? 

Nein, die erste Phase lief drei Tage lang in Zentralgaza, und danach hat in Südgaza eine zweite begonnen. In der ersten Phase wurden etwa 30 Prozent der 640 000 Kinder unter zehn, die geimpft werden sollten, erreicht. Das reicht nicht, und die Logistik ist in den anderen beiden Gebieten Gazas noch schwieriger. Es müssen wirklich 100 Prozent erreicht werden, aber das scheint kaum möglich, zumal es zahlreiche Luft- und Artillerieschläge in der Nähe der Impfzentren gab, besonders bei Deir Al-Balah. 

Israel hält sich also nicht an die Waffenruhe? 

Das Kabinett hat ihr nie offiziell zugestimmt, nur einige Minister haben das getan. Premierminister Benjamin Netanjahu gehört nicht dazu. Die Streitkräfte hatten angekündigt, die Waffenruhe unterstützen und sich daran halten zu wollen, aber dennoch gab es mehrere Angriffe. 

Was die britische Zeitung Guardian über die erste Phase der Impfkampagne berichtet, klingt optimistischer als Ihre Einschätzung. 

Alle wollen, dass dies ein Erfolg wird, und niemand will der Miesepeter sein. Also betonen sie, was geklappt hat, und spielen herunter, was nicht geklappt hat.  

Israels Regierung beruft sich auf das Selbstverteidigungsrecht ihres Landes. Was ihre Truppen tun, wirkt aber oft wie ein Rachefeldzug, und manche sprechen sogar von Völkermord. Was ist wirklich los?

Nichts, was Israel in diesem Krieg tut, ist neu. Wir kennen das alles schon: 

  • die Einschränkungen von Nahrungsmitteln, medizinischer und sonstiger Hilfe, 
  • die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur, einschließlich von Krankenhäusern, 
  • die Vertreibung von Menschen, die dann in immer kleineren Gebieten zusammengedrängt werden, und 
  • die Besetzung oder Wiederbesetzung von Land. 

All das geschieht aber nun in einem unglaublich hohen Maß, das alles übertrifft, was wir bisher gesehen haben. Offiziell sagt die Regierung, sie wolle die Geiseln befreien und die Hamas militärisch und politisch vernichten. Inoffiziell läuft aber viel mehr ab. Der Hintergrund ist, dass eine rassistische Überlegenheitsideologie in Israel in den vergangenen Jahrzehnten Wurzeln geschlagen hat, die immer tiefer wachsen. Das betrifft die junge Generation stärker als ältere Menschen, lässt sich aber bis zur Nakba, der Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung von 1948, zurückverfolgen. Diese Denkweise treibt schon immer die radikale israelische Siedlerbewegung im Westjordanland an, und viele von ihnen wollen auch Siedlungen in Gaza bauen. Diese Weltsicht prägt mittlerweile das Handeln der Truppen. Das sollte niemanden überraschen, denn die Siedlerbewegung stellt zwar nur etwa 15 bis 18 Prozent der Bevölkerung, aber mindestens 35 Prozent der Kampfeinheiten. 

Tut die Regierung irgendwas, um deren Haltung einzudämmen? 

Nein, sie gießt sogar Öl ins Feuer. Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich gehören selbst zum nationalreligiösen Lager und leben in Siedlungen. Sie sind eigentlich nur Repräsentanten oder Symbole eines umfassenderen Wandels in der israelischen Gesellschaft, den Außenstehende nur schwer verstehen können. Smotrich und Ben-Gvir bedienen jedenfalls das wachsende Extremistenlager. Sie vertreten dessen Sicht, dass Israelis alles tun dürfen, um Palästina auf Dauer zu besetzen und zu unterwerfen, aber auch um mehr Land zu gewinnen. Sie finden, Antisemitismus sei weltweit und besonders in den UN so weit verbreitet, dass darauf mit Gewalt reagiert werden müsse. Bezeichnenderweise heizen Israels Extremisten derzeit auch die Gewalt im Westjordanland an. Das Grundmotiv der religiösen Zionisten lautet ungefähr so: „Wenn wir sie nicht kontrollieren, töten, unterdrücken und sogar unser Land ethnisch säubern, werden sie uns töten.“ Die Hamas-Anschläge voriges Jahr haben diese Haltung offensichtlich verstärkt, aber es gab sie schon vorher. Genozidale Rhetorik ist weit verbreitet, selbst in den Mainstreammedien, und wer sich auf Telegram oder anderen sozialen Medien umschaut, findet täglich neue Posts von Mitgliedern der israelischen Armee, die sagen, sie wollten alle Palästinenser*innen bestrafen und vielleicht auch töten oder vertreiben. Sie geben sogar mit ihren Kriegsverbrechen an, als seien diese für die Nation erstrebenswerte Leistungen.

Also hält sich Israel nicht an die Auflagen des Internationalen Gerichtshofs, der Januar, März und Mai beschied, Israel müsse Völkermord verhindern. Unter anderem hat er Israel dazu verpflichtet, genozidale Rhetorik zu unterbinden und die humanitäre Situation zu verbessern. 

Israels Regierung akzeptiert diese Auflagen nicht und die humanitäre Lage verschlechtert sich weiter dramatisch. Laut der Website der israelischen Regierung bringen täglich 200 bis 250 Lastwagen Güter nach Gaza. Das ist nur ein Drittel dessen, was die Vereinten Nationen allein an humanitärer Hilfe empfehlen. Ausschließlich humanitären Zwecken dienen aber nur etwa acht bis zehn Prozent der LKW. Die anderen werden als „kommerziell“ bezeichnet. Sie transportieren profitorientiert nicht nur Hilfsmittel, sondern auch lukrative andere Dinge wie Tabak. Sie versorgen den Schwarzmarkt, wo sich Leute, die mit Israel kooperieren, durch hohe Preise bereichern.

Wie wirkt sich das auf andere Gesundheitsthemen aus, etwa die Müttergesundheit? 

Jeden Monat gibt es mehrere 100 wenn nicht 1000 Kaiserschnitte ohne Schmerzmittel unter unhygienischen Bedingungen. Bekanntlich gibt es monatlich rund 5000 Geburten in Gaza, und in Zeiten der Not sind Komplikationen wahrscheinlicher als sonst. Es ist belegt, dass die Ernährung unter schwangeren Frauen und stillenden Müttern zu einseitig ist, wenn sie denn überhaupt ausreichend Kalorien bekommen. Von Hepatitis A gibt es besonders viele neue Fälle, aber Hepatitis B nimmt auch zu. Das gilt ebenso für akute Atemwegserkrankungen und Ruhr. Blinddarmentzündungen führen zum Tod, obwohl sie normalerweise leicht behandelbar wären. Wir dürfen auch chronische Krankheiten nicht vergessen. Wer unter Bluthochdruck oder Diabetes leidet, braucht regelmäßig Medikamente. Vor dem Krieg waren diese relativ leicht erhältlich; jetzt nicht mehr. Auch deshalb sterben unnötigerweise Menschen.

Chris Whitman leitet das Jerusalemer Büro von medico international. 
info@medico.de

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