Entwicklung und
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Buchrezension

Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen

Der Nahe Osten ist eine der fragilsten Weltregionen, geprägt von verworrenen Krisen und Kriegen. Der französische Soziologe Gilles Kepel analysiert in seinem Buch „Chaos“ sowohl die politisch-religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Region über die vergangenen vier Jahrzehnte als auch ihre Auswirkungen auf den Rest der Welt.
Der Dschihad hat Europa erreicht: Belgische Soldaten patrouillieren auf dem Weihnachtsmarkt in Brüssel nach den Anschlägen 2015. Nicolas Maeterlinck/picture-alliance/dpa Der Dschihad hat Europa erreicht: Belgische Soldaten patrouillieren auf dem Weihnachtsmarkt in Brüssel nach den Anschlägen 2015.

Für den Nahost-Kenner Kepel ist das Jahr 1973 entscheidend für das derzeit herrschende Chaos. Im damals von Ägypten und Syrien geführten Oktoberkrieg gegen Israel – auch Jom-Kippur-, Ramadan- oder Vierter Arabisch-Israelischer Krieg genannt – beschlossen die arabischen Ölförderländer, die Ölpreise stark zu erhöhen und die Ausfuhren zu senken. Damit wollten sie Druck auf Israel und seine Verbündeten ausüben, den 1967 im Zuge des Sechstagekrieges besetzten Sinai und die Golanhöhen zu räumen und die Rechte der Palästinenser anzuerkennen.

Saudi-Arabien und den Golf-Emiraten bescherte diese Entscheidung einen nie dagewesenen Reichtum. Die Saudis beanspruchten fortan die Vormachtstellung innerhalb der islamischen Welt und verbreiteten ihre radikal-salafistische Auslegung des Korans.

1979 bildete sich nach der Iranischen Revolution ein schiitisch geprägter Gegenpol zu der sunnitischen Dominanz der Saudis. Beide Staaten finanzierten fortan unzählige Stellvertreterkriege. Die zunehmende Islamisierung und Radikalisierung der politischen Ordnung führte immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten und gegen „Ungläubige“. Sie spaltete die arabische Welt in zwei Lager und führte zu einer sich immer schneller drehenden Gewaltspirale.

Im zweiten Teil seines Buches analysiert Kepel anhand der sechs Länder, die den Arabischen Frühling durchlebten – Tunesien, Ägypten, Libyen, Bahrain, Jemen und Syrien –, wie der Kampf um die Vormachtstellung in der islamischen Welt die Demokratiebewegungen mit ihren Forderungen nach mehr Menschenrechten prägte. Er zeigt auf, wie diese Bewegungen, in die auch der Westen große Hoffnungen gesetzt hatte, zunehmend von unterschiedlichen Mächten für deren eigene Zwecke instrumentalisiert wurden und wie und warum diese Entwicklung schließlich in das unvorstellbare Grauen mündete, das die Terrororganisation ISIS verursachte.

Die Entwicklung des Dschihadismus unterteilt Kepel in drei Phasen:

  1. Dschihad, um das von „Ungläubigen“ angegriffene islamische Territorium zu verteidigen (geführt gegen Israel und seine Verbündete oder gegen die Sowjets in Afghanistan, aber auch um die Vormachtstellung innerhalb der islamischen Welt).
  2. Mit den spektakulären Anschlägen in den USA im September 2001 schafft der Dschihadismus den Sprung auf die internationale Ebene. Der darauf folgende „Krieg gegen den Terror“ und der Einmarsch der USA in den Irak ebneten den Weg zur nächsten Phase.
  3. ISIS besetzt große Gebiete im Irak und in Syrien und ruft 2014 das Kalifat aus. Das Terrornetzwerk rekrutiert über soziale Medien weltweit Kämpfer und trägt den Dschihad zunehmend auch nach Europa. Dortige Anschläge und die Ankunft zahlreicher Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten in Syrien und dem Irak führen zu einem Erstarken des Rechtspopulismus in der EU.

Der dritte und letzte Teil des Buches befasst sich mit den Ereignissen seit dem Sturz des Kalifats und mit der strategischen Neuordnung der Region. Die territoriale Auflösung von ISIS nehme der Terrororganisation zwar Aktionsmöglichkeiten, und gesunkene Ölpreise entzögen dem weltweiten Dschihadismus finanzielle Mittel. Dennoch bleibe die terroristische Bedrohung bestehen.

Kepel kommt zu dem Schluss, dass der Wiederaufbau und die Stärkung der östlichen Mittelmeerländer als Gelenk zwischen Europa und dem Nahen Osten unabdingbar ist, wenn sich die Krisen der letzten Jahrzehnte nicht noch weiter verstetigen sollen. Er fordert Europa dringend auf, seine eurozentrische Sicht aufzugeben und das Verhältnis zu den Ländern dieser Region grundlegend zu überdenken.


Buch
Kepel, G., 2019: Chaos. Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen. München, Kunstmann.
(Original 2018: Sortir du Chaos. Les Crises en Méditerranée et au Moyen-Orient. Paris, Gallimard.)