Flucht und Vertreibung
Fast jeder Mensch trägt eine Fluchtgeschichte in sich
„In uns allen steckt ein Flüchtling“, lautet ein berühmtes Zitat des Gründers der Hilfsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck. Er rief die Organisation 1979 ins Leben, um vietnamesische Geflüchtete aus dem Südchinesischen Meer zu retten. Heute ist sie weltweit an Hilfsprojekten beteiligt. Neudeck, der 2016 verstarb, führte sein Engagement auf eigene Erlebnisse zurück: Er musste kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Kind aus Danzig fliehen. Die Flucht prägte sein Leben – und Neudeck wurde klar, dass die meisten Menschen einen Hintergrund haben, der mit Migration zu tun hat.
Das Zitat darf auch in dem Buch „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“ des promovierten Historikers Andreas Kossert nicht fehlen. Geschichten von Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, seien so alt wie die Menschheit selbst, schreibt Kossert. In allen Weltregionen, Sprachen und Kulturen seien sie ein Kernthema – und in fast jeder Familie zu finden. In seinem Buch spannt er einen weiten Bogen: von der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies über die Verbannung der Jüdinnen und Juden bis zur Vertreibung der Muslime aus Spanien im Mittelalter; von der Versklavung und Verschleppung von Menschen aus Afrika über den nationalistisch motivierten Terror des 20. Jahrhunderts bis hin zu den Fluchtbewegungen der Gegenwart, verursacht durch Bürgerkriege, Terror und Klimakrise.
Kossert konzentriert sich auf Europa und den Nahen Osten, blickt aber auch nach Asien, Afrika und Lateinamerika. Obwohl Ursachen und Verhältnisse, die Menschen zur Flucht bewegten, sehr unterschiedlich seien, so teilten doch fast alle ähnliche Erfahrungen, schreibt er: Erniedrigung, Gewalt, Angst, Verlust, Schmerz, Überforderung, Feindseligkeit.
Dem Autor geht es nicht um die Darstellung oder Aufarbeitung der historischen Hintergründe von Fluchtbewegungen, sondern darum, wie Geflüchtete selbst ihre Situation erleben und darstellen. Mittels persönlicher Zeugnisse wie Interviews, Tagebucheinträgen und literarischer Werke lässt er sie selbst zu Wort kommen – wie im Fall von Rupert Neudeck.
Bruch und Verlust
Flucht bedeute immer eine Zäsur, die das Leben in ein Davor und ein Danach teile, schreibt Kossert. Sie sei der Bruch der Kontinuität mit den Vorfahren. Über Generationen weitergegebene Investitionen, Grund und Boden, auch immaterieller Besitz – alles bleibe zurück. Hinzu komme der Verlust der Nachbarn und Freunden, der Orte des bisherigen Lebens, selbst der Friedhöfe der verstorbenen Ahnen.
Viele Flüchtende verlieren ihre Heimat für immer. Mit dem Abschließen der Haustüre beenden sie ihr bisheriges Leben. Wie Kossert schreibt, wird der Schlüssel dabei oft zum Symbol für alles Zurückgelassene, sorgfältig aufbewahrt für den Tag der Rückkehr, der meist nie kommt. Nicht wenige geben den Schlüssel von Generation zu Generation weiter – ein Brauch, der bereits bei den sephardischen Juden im 15. Jahrhundert üblich war. Andere nehmen symbolisch eine Handvoll Heimaterde mit, um später nicht in fremder Erde ruhen zu müssen, wie die Ukrainerin Anna Sudyn, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der polnischen Armee vertrieben wurde.
Auch wenn die Geflüchteten endlich in vermeintlicher Sicherheit sind, lasten die Erfahrungen des Verlustes der Heimat und der Flucht schwer auf ihnen. Oft sind sie geprägt von Demütigung und Gewalt, unter der insbesondere Frauen und Mädchen leiden, von Zwangsarbeit und körperlichen Strapazen, vom Fremdsein im Ankunftsland und von der Trauer um das Verlorene.
Geflüchtete verändern Gesellschaften
„Ob aus Syrien, Schlesien oder Myanmar, in den Ankunftsländern sind Flüchtlinge eine beliebte Projektionsfläche für jene, die Angst haben, ins Hintertreffen zu geraten, die ihre Sicherheit bedroht sehen“, schreibt Kossert. Das individuelle Schicksal zähle dann nicht. „Die“ Flüchtlinge würden zu einer gesichtslosen Masse, die kein Mitgefühl erwecke. In Kombination mit Begriffen wie „Flut“, „Lawine“, „Welle“ oder „Strom“ würden sie vielmehr als eine Art Naturkatastrophe wahrgenommen, gegen die man sich nur durch den Bau hoher Mauern und Dämme schützen könne, analysiert Kossert.
Wenn Geflüchtete bleiben, können sie Gesellschaften bereichern und modernisieren. Kossert illustriert diesen Aspekt vor allem mit deutschen Erfahrungen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen etwa 14 Millionen Vertriebene in die vier Besatzungszonen. Die Neuankömmlinge brachten Wissen und Fähigkeiten mit – und pflegten ihre Traditionen: Musik, Rezepte und Gerüche weckten Erinnerungen an die Heimat. So bereichern Geflüchtete fast überall auf der Welt die Speisekarten der Gastländer.
Für Einzelne können Flucht und Vertreibung eine menschliche Tragödie sein; im größeren Maßstab betrachtet sind sie eine globale Katastrophe. Doch wie Kossert festhält, sind es nicht die Geflüchteten im Mittelmeer und anderswo, die diese Krise verursachen. Vielmehr sind es politische Entscheidungen, die Menschen zu Flüchtlingen machen. Es könne alle treffen – und es treffe zunehmend mehr Menschen, betont Kossert. Er fordert, Fluchtursachen in gemeinsamer Anstrengung zu bekämpfen. Dazu gehöre auch, Gewalt zu ächten, die zu Flucht und Vertreibung führe. Das Bewusstsein dafür international zu schärfen, hält er für ein zentrales Anliegen – sowohl für Flüchtende als auch für alle anderen.
Literatur
Kossert, A., 2022: Flucht – Eine Menschheitsgeschichte. München, Pantheon. Originalverlag: München, Siedler, 2020.
Dagmar Wolf ist Redaktionsassistentin bei E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu