Muslimische Gesellschaft
Mutige Tat
In Indonesien, wo 90 Prozent der 250 Millionen Einwohner Muslime sind, werden im Schnitt jeden Tag mehr als tausend Ehen geschieden. Nach einer Statistik des Obersten Rates für religiöse Angelegenheiten, der nur für Muslime zuständig ist, stieg die Zahl der Scheidungen von 251 208 im Jahr 2010 auf 382 231 im Jahr 2014 an.
Die wachsende Zahl gescheiterter Ehen ist ein Thema in den indonesischen Medien, die vor freizügigem und liberalem Lebensstil warnen. Es gibt Workshops und Seminare, vor allem für Frauen, in denen Tipps zur Ehe-Rettung gegeben werden. Auch die Printmedien und das Internet sind voll von Ratgebern für Eheleute.
Viele Seiten werben kräftig für die Ehe – auch für die polygame muslimische Variante, bei der Männer bis zu vier Ehefrauen haben dürfen. Lange Zeit galt das in Indonesien als veraltet und politisch inkorrekt, weshalb Beamte zum Beispiel auch keine polygamen Ehen führen dürfen. Auch Frauenrechtlerinnen lehnen Polygamie ab. Dennoch ist diese Praxis zunehmend beliebt. Um das Heiraten zu fördern, veranstalten einige Verwaltungsbezirke Massenhochzeiten, denn viele Paare können sich die Gebühren für die Eheschließung angeblich allein nicht leisten.
Diesem Trend liegt wachsender Konservatismus zu Grunde, aber Statistiken gibt es dazu nicht. Die meisten Indonesier sind religiös, und die Ehe war in den Augen der großen Mehrheit schon immer ein hohes Gut. Daher haften Scheidungen auch kinderlosen Männern und Frauen als Stigma an. Viele Frauen der Mittelschicht halten denn auch an ihrer Ehe fest, selbst wenn sie zu einer Farce verkommen ist.
In Indonesien braucht eine Frau viel Mut, um die Scheidung einzureichen (siehe Kasten). Eine Scheidung schadet aber auch dem Ruf des Mannes, allerdings nicht in demselben Ausmaß. Der Anwältinnen-Verein Asosiasi Advokasi Perempuan berichtet, dass Frauen ihren Mann selbst bei häuslicher Gewalt meist nur für kurze Zeit verlassen und dann zu ihm zurückkehren – nicht selten auch mehrmals. Nach Angaben des Vereins kehren Frauen im Schnitt bis zu acht Mal zu ihrem Mann zurück, bevor sie sich endgültig trennen.
Finanzsorgen sind der häufigste Scheidungsgrund, gefolgt von Untreue und sexuellen Problemen. Häufig wird über Kinderlosigkeit oder aber über zu viel Nachwuchs geklagt. Fehlende Kommunikation scheint ein weiterer Trennungsgrund zu sein.
Nach einer Untersuchung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten wurden in den vergangenen Jahren die meisten Scheidungen in den Provinzen Aceh, Padang, Cilegon, Indramayu, Pekalongan, Banyuwangi und Ambon vollzogen. Als wesentlicher Grund gilt die Arbeitsmigration. Die finanzielle Existenzsicherung für sich selbst und die Familie hat für die meisten Indonesier, wie für die meisten Menschen in aller Welt, Priorität. Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und stetig steigender Preise suchen viele Indonesier Jobs im Ausland, ob als Arbeiter oder Angestellte. Die Entfernung von der Heimat belastet das Familienleben sehr. In seltenen Fällen versorgen Indonesier aus dem Ausland sogar vier Ehefrauen und müssen entsprechend Ersparnisse nach Hause schicken. Manchmal wird Scheidung unvermeidbar.
Seifenopern und Sextourismus
Zwei weitere Trends, die zu der steigenden Scheidungsrate beitragen, sind die Popkultur und der zunehmende Sextourismus. Das Ministerium für religiöse Angelegenheiten warnt davor, sich an den Seifenopern im Fernsehen zu orientieren, in denen junge, unerfahrene Paare eine Hochzeit feiern, als wäre das eine Art Verabredung.
Auf der anderen Seite gibt es das Problem des Sextourismus: Touristen „heiraten“ Frauen für eine begrenzte Zeit und beuten sie sexuell aus. Nach Ansicht der religiösen Gemeinschaften ist eine solche Ehe, solange sie besteht, gültig – aber nach dem Weggang der ausländischen „Ehemänner“ bleiben die Frauen voller Scham zurück. Das ist natürlich eine Form der Prostitution.
Die indonesische Regierung hat wichtige Fragen bezüglich der Scheidung, etwa zu Unterhaltszahlungen und Sorgerecht, geregelt. Der Rechtsstaat in Indonesien ist jedoch schwach, oft werden Gesetze nicht angewendet. Daher kommt es bei einer Scheidung sehr auf das persönliche Verantwortungsbewusstsein der Beteiligten an.
Rechtlich gesehen können beide Ehepartner die Scheidung einreichen, sei es vor einem islamischen oder einem staatlichen Gericht. Die Anträge und Erläuterungen sind im Internet zu finden. Frauen- und Bürgerrechtsgruppen helfen mit Informationen und Rechtsbeistand. Obwohl Scheidungen in Indonesien nach wie vor schlecht angesehen sind, sind sie eine Realität geworden. Das passt zum Alltag der Gesellschaft – aber nicht unbedingt zu ihrer Weltsicht.
Edith Koesoemawiria ist freie Journalistin.
hidayati@gmx.de