Außenhandel
Exporte als Wachstumsmotor?
Der traditionellen Handelstheorie zufolge schaffen offene Märkte ökonomische Vorteile. Bereits David Ricardo (1772–1823) betonte: Wenn zwei Länder handeln, dann profitieren wegen komparativer Kostenunterschiede beide Volkswirtschaften von internationaler Arbeitsteilung. Das Paradigma des exportgetriebenen Wachstums wurde insbesondere in den 1970er Jahren relevant und verbreitete sich nicht zuletzt durch den Internationalen Währungsfond und die Weltbank. Beide Institutionen knüpften Kreditvergabe und finanzielle Unterstützung häufig u.a. an die Bedingung, dass die Empfängerländer Handelshemmnisse abbauen und ihre Märkte liberalisieren sollten.
Zur Verbreitung des Paradigmas trug auch bei, dass die nach außen orientierten Ökonomien in Asien häufig erfolgreicher waren als die typischerweise nach innen orientierten Ökonomien in Lateinamerika. Dort setzte man eher auf das alternative Wachstumsmodell der Importsubstitution, welches durch protektionistische Maßnahmen die heimische Wirtschaft schützen und somit nach und nach Importe durch eigens produzierte Güter ersetzen sollte. Dies hatte zwar den Vorteil, dass Effekte auf Produktion und Beschäftigung schnell sichtbar und nicht von anderen Ökonomien abhängig waren. Die Erfolgsgeschichten asiatischer Tigerstaaten wie Südkorea, Taiwan und Singapur illustrierten jedoch eindrucksvoll die Chancen des exportgetriebenen Wachstumsmodells, das folglich immer mehr Anhänger fand.
Das spiegelt sich auch in einer großen Masse an Fachliteratur wider, die das Phänomen empirisch untersucht. Frühe Studien, die einen starken positiven Effekt von Exporten auf Wirtschaftswachstum fanden, gerieten jedoch zunehmend wegen methodischer Mängel in die Kritik. Ein offenkundiges Problem ist, dass die Kausalität in beide Richtungen wirken kann: Es ist zwar möglich, dass Exporte Wachstum generieren, aber genauso wahrscheinlich, dass Länder mit größerem Wachstum mehr exportieren. Darüber hinaus könnten Exporte und Wirtschaftswachstum sich gegenseitig verstärken oder gleichzeitig von einem dritten Faktor getrieben sein, der nicht Bestandteil der Analyse ist. Giles und Williams (2000) geben in ihrem viel zitierten Fachartikel einen umfassenden Überblick über den Stand der empirischen Literatur. Fazit: Es gibt keinen klaren Konsens bezüglich der Hypothese, dass Exporte Wachstum fördern. Studien mit unterschiedlichen Methoden, Ländern, Zeitabschnitten und Variablen kommen zu teils widersprüchlichen Ergebnissen.
Dieses wenig zufriedenstellende Ergebnis hat Forscher veranlasst, einen neuen Blickwinkel einzunehmen. Jüngere Studien betonen: Es kommt nicht nur darauf an, dass ein Land exportiert, es kommt auch darauf an, was das Land exportiert. Der Artikel „What you export matters“ von Hausmann et al. (2007) legte den Grundstein für diesen Literaturstrang. Seine Ergebnisse wurden von vielen darauffolgenden Studien bestätigt: Länder, die sich stärker auf den Export von Hightech-Produkten spezialisieren, wachsen schneller als Länder, die Lowtech-Produkte ausführen. In Bezug auf die traditionelle Handelstheorie bedeutet dies, dass Entwicklungsländer nicht nur das exportieren sollten, was ihrem gegenwärtigen komparativen Kostenvorteil entspricht, sondern ebenfalls Anstrengungen unternehmen sollten, in anderen Bereichen wettbewerbsfähig zu werden. Dafür ist allerdings ein gewisser technologischer Fortschritt Voraussetzung.
Ein weiterer Literaturzweig nimmt zusätzlich den Einfluss von Importen im exportgetriebenen Wachstumsmodell in den Blick. Importe werden für viele Ausfuhren als Zwischenprodukte benötigt und können positive Technologie- und Wissenstransfers generieren. Einige Studien zeigen in der Tat, dass Wachstum auch importgetrieben sein kann (siehe z. B. Awokuse 2008) und dass Importe die Stärke der Auswirkungen von Exporten auf Wachstum beeinflussen (siehe z. B. Riezman et al. 1996). Mit diesen Ergebnissen erscheint das merkantilistische Ziel, Außenhandelsüberschüsse zu generieren, also Exporte zu fördern und Importe gering zu halten, in einem neuen und kritischeren Licht.
Der Abbau von Importhemmnissen wird auch deshalb immer wichtiger, weil die Herstellung eines Produkts und seiner einzelnen Komponenten immer häufiger in vielen unterschiedlichen Ländern und Regionen stattfindet. Die Rolle globaler Wertschöpfungsketten wird als entscheidend für den internationalen Handel im 21. Jahrhundert angesehen und prägt auch die jüngste Literatur. Einen guten Überblick über die Rolle von globalen Wertschöpfungsketten für Entwicklungsländer geben die Studie der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD 2013) und ein kürzlich erschienenes Buch der Weltbank (Taglioni und Winkler 2016).
Globale Wertschöpfungsketten bieten gerade für Entwicklungsländer große Chancen: Sie ermöglichen es den Volkswirtschaften, durch die Verwendung ausländischer Zwischenprodukte den Teil des Produktionsprozesses zu übernehmen, der ihnen am besten liegt, ohne selbst eine ganze Industrie aufbauen zu müssen. Deshalb gilt die Einbindung in internationale Produktionsnetzwerke als vielversprechende Wachstumsstrategie. Allerdings sind globale Wertschöpfungsketten stark kompetitiv, und es ist nicht gesichert, dass Entwicklungsländer durch die Einbindung immer nachhaltig profitieren.
In globalen Wertschöpfungsketten werden viele Güter importiert, weiterverarbeitet oder zusammengesetzt und dann wieder exportiert: Häufig ist daher nur ein kleiner Anteil des Exportvolumens tatsächlich mit Wertschöpfung im Land verbunden. Nur diese inländische Wertschöpfung trägt zur Erhöhung des Bruttoinlandprodukts und damit zum Wachstum bei – die Bedeutung von Exporten wurde also lange Zeit systematisch überschätzt.
Viele Entwicklungsländer sind vornehmlich in Niedriglohnsegmenten aktiv und der Anteil inländischer Wertschöpfung an ihren Exporten ist gering. Sie können zwar Wirtschaftswachstum verzeichnen. Langfristig besteht jedoch die Gefahr, dass ihnen neue Wettbewerber in den Niedriglohnsegmenten Konkurrenz machen, während sie gleichzeitig noch nicht in komplexere Segmente vordringen können. Dieses Dilemma, in dem Länder auf mittlerem Einkommensniveau gefangen sind, ist die berühmt-berüchtigte „Middle-income Trap“. Deshalb besteht weitgehend Konsens in der Fachliteratur, dass Entwicklungsländer neben der Einbindung in globale Wertschöpfungsketten auch ein „Upgrading“ anstreben sollten, also den Aufstieg zu Produktionsschritten oder Dienstleistungen mit höherer Wertschöpfung. UNCTAD (2013) berechnet, dass Länder, die in den vergangenen 20 Jahren sowohl ihre Beteiligung in globalen Produktionsnetzwerken als auch ihren Wertschöpfungsanteil in Exporten erhöht haben, ein Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3,4 Prozent verzeichneten – im Vergleich zu lediglich 2,2 Prozent für Länder, die in Wertschöpfungsketten aktiv waren, aber kein Upgrading durchliefen.
Das Buch der Weltbank (Taglioni und Winkler 2016) analysiert, wie globale Wertschöpfungsketten am besten zum Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern beitragen können. Wichtige Faktoren für die erfolgreiche Einbindung in internationale Produktionsnetzwerke sind unter anderem Auslandsdirektinvestitionen, ein zuverlässiges Investitionsklima, eine gut ausgebaute Infrastruktur und niedrige Handelsbarrieren. Für Upgrading und vorteilhafte Verbindungen mit internationalen Firmen sind außerdem gut ausgebildete Arbeitskräfte, die Erfüllung internationaler Qualitäts- und Produktionsstandards, administrative und finanzielle Ressourcen zum Aufbau neuer Produktionszweige und komplementärer Dienstleistungen sowie Innovationen und Forschung förderlich. Die internationale Entwicklungspolitik könnte bei einigen dieser Punkte ansetzen. Auch industriepolitische Maßnahmen werden im Zusammenhang mit Upgrading wieder intensiver diskutiert (siehe Beitrag von Michael Grimm in E+Z/D+C e-Paper 2016/3, S. 33 ff.).
Kurz zusammengefasst: Außenhandel gilt nach wie vor als Motor für Wirtschaftswachstum. Gleichzeitig sind Exporte allein nicht ausreichend: Es gibt immer mehr empirische Evidenz, die zeigt, dass es eine Rolle spielt, was exportiert wird und welche inländische Wertschöpfung damit verbunden ist. In diesem Zusammenhang werden wieder vermehrt die Möglichkeit und Notwendigkeit diskutiert, durch Politikmaßnahmen den Aufstieg von Entwicklungsländern zu höherwertigen Produkten oder komplexeren Produktionsschritten in Wertschöpfungsketten zu unterstützen. Das Paradigma des exportgetrieben Wachstums hat also grundsätzlich Bestand, hat sich jedoch mit der Zeit gewandelt und ist differenzierter geworden.
Wir wagen außerdem einen Blick in die Zukunft: Mit der Verabschiedung der universellen Sustainable Development Goals (SDGs) werden neben der ökonomischen Dimension von Entwicklung vermehrt auch potentielle Trade-Offs mit ökologischen und sozialen Zielen in den Fokus der Debatte rücken.
Clara Brandi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).
clara.brandi@die-gdi.de
Dominique Bruhn
ist ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DIE.
dominique.bruhn@die-gdi.de
Literatur
Awokuse, T., 2008: Trade openness and economic growth: Is growth export-led or import-led? Applied Economics 40(2).
Giles, J. A., und Williams, C. L., 2000: Export-led growth: A survey of the empirical literature and some non-causality results. Part 1, Journal of International Trade and Economic Development.
Hausmann, R., Hwang, J., und Rodrik, D., 2007: What you export matters. Journal of Economic Growth 12.
OECD/WTO, 2016: „Trade in value added”, OECD-WTO: Statistics on trade in value added (database). DOI.
http://dx.doi.org/10.1787/data-00648-en
Riezman, R. G., Summers, P. M., und Whiteman, C. H., 1996: The engine of growth or its handmaiden? A time series assessment of export-led growth, Empirical Economics, 21.
Taglioni, D., und Winkler, D., 2016: Making Global Value Chains Work for Development. Trade and Development. Washington, World Bank.
https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/24426
UNCTAD, 2013: Global value chains and development: Investment and value added trade in the global economy. United Nations Conference on Trade and Development.
http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/diae2013d1_en.pdf