Asiatische Giganten

China schlägt Indien

China und Indien sind die bevölkerungsreichsten Länder der Welt. Zusammen machen sie ein Drittel der Menschheit aus. Beide Länder gestalten ihr Schicksal seit Ende der 1940er Jahre größtenteils unabhängig. Statistiken belegen, dass das kommunistische China das formal demokratische Indien schon seit langem überflügelt.
Ab 2018 arbeitete in China nur etwas mehr als ein Viertel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Xu Jinbo Ab 2018 arbeitete in China nur etwas mehr als ein Viertel der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft.

 „Wachstum“ und „Entwicklung“ sind nicht dasselbe. Der erste Begriff bezieht sich eng auf die Wirtschaft, während letzterer eine breite Palette von Indikatoren für das Wohlergehen einschließlich sozialer, politischer und kultureller Aspekte erfasst. Wissenschaftler sind sich uneinig, wie Wachstum und Entwicklung zusammenhängen. Relevante Fragen lauten: Was von beidem kommt zuerst? Wie kann die Politik beides in die Wege leiten? Was ist die Rolle des Marktes? Und was die Rolle des Staates?

Der Vergleich zwischen China und Indien ist nützlich. Dieser kurze Aufsatz fasst einige Erkenntnisse aus der langjährigen, kontroversen und komplexen Debatte über die Entwicklungspfade der beiden Länder zusammen. Zunächst müssen jedoch zwei grundlegende, historisch belegte Wahrheiten festgehalten werden:

  • Entweder-Oder-Denken ist nicht sinnvoll. Sowohl der Markt als auch der Staat sind zur Förderung von Wachstum und Entwicklung wichtig. Gebraucht wird eine angemessene Balance. Zudem stehen die jeweiligen Rollen von Markt und Staat nicht auf Dauer fest, sondern entwickeln sich ständig weiter. Regierungen tragen jedenfalls eine Verantwortung dafür, Voraussetzungen für dynamisches Marktgeschehen zu schaffen, denn rein marktgetriebenes Wachstum gibt es nur selten – wenn überhaupt. Vor allem in den frühen bis mittleren Phasen der wirtschaftlichen Transformation lösen Märkte grundlegende Probleme kaum. Dabei geht es etwa um den Aufbau einer Infrastruktur, die allen dient, oder die Gewährleistung minimaler sozialer Sicherheit. Obendrein zeigen der Klimawandel und andere schädliche globale Umwelttrends, dass Markttransaktionen oft unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben. Regierungshandeln bleibt also wichtig.
  • Es ist ein Trugschluss, Sozialismus mit Autoritarismus und Kapitalismus mit Demokratie gleichzusetzen, wie das westliche Experten oft tun. Beide Gleichsetzungen führen in die Irre, denn manche demokratisch gewählte Regierungen haben sich für sozialistische Politik entschieden, während manche autokratische Herrscher Marktdogmatik beherzigten. Es gibt weder eine klare Korrelation zwischen Demokratie und Entwicklungserfolg noch zwischen Despotismus und Misserfolg. In beiden Szenarien kann es zu der Art von marktwirtschaftlich-staatlicher Synergie kommen, die Entwicklung fördert (siehe Kasten).

Die empirische Evidenz zeigt, dass Entwicklungserfolge aus dem Zusammenspiel von Markt und Staat resultieren. Wenn dieses Zusammenspiel gelingt, können Grundbedürfnisse wie Gesundheitsversorgung und Bildung schon bei relativ geringem materiellem Wohlstand befriedigt werden. Tatsächlich legte Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Grundlagen westlicher Wohlfahrtsstaaten, kurz nachdem er das Kaiserreich vereinigt hatte und die großflächige Industrialisierung Deutschlands einsetzte (siehe hierzu meinen Beitrag im Schwerpunkt E+Z/D+C e-Paper 2019/12).

Es ist ähnlich bemerkenswert, dass Kerala seit Jahrzehnten die Rangliste der indischen Bundesstaaten hinsichtlich Alphabetisierung und Lebenserwartung anführt, obwohl es gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf nur auf Platz neun liegt. Laut Beobachtern profitiert Kerala von vergleichsweise guter Amtsführung und stimmiger Synergie von Markt und Staat.

Auch der Vergleich Indiens mit China zeigt, dass sozialer Fortschritt nicht einfach eine Funktion des BIP ist. Indien wurde 1947 unabhängig. 1949 wurde China zur Volksrepublik, nachdem die kommunistische Volksbefreiungsarmee den Bürgerkrieg gewonnen hatte. Beide Länder waren damals stark verarmt. Sie hatten jahrhundertelang unter imperialistischer Ausbeutung gelitten.

Bis in die 1980er war Chinas Volkswirtschaft staatlich kontrolliert. Im Gegensatz dazu lenkte in Indien der Staat die Wirtschaft, ließ dem Privatsektor aber auch beträchtliche Freiheiten. In den frühen 1950ern unterschieden sich die wirtschaftlichen Standardindikatoren wie das BIP-Pro-Kopf für China und Indien nicht wesentlich. Die Infrastruktur war zudem ähnlich schwach. Laut Weltbank-Daten gab es in beiden Ländern solide Erfolge, denn Chinas Pro-Kopf-BIP stieg in den Jahren 1961 bis 1981 von 141 Dollar auf 360 Dollar (gemessen in Preisen von 2010). In dieser Zeit stieg Indiens Pro-Kopf-BPP von 335 Dollar auf 438 Dollar. Indien lag also vorn, kam aber langsamer voran.

Daten zu Einschulung, Alphabetisierung, Säuglingssterblichkeit et cetera zeigen zudem, dass China Indien bereits 1980 übertraf. Beispielsweise lag die Lebenserwartung bei der Geburt in China bei 67 Jahren, in Indien aber nur bei 54 Jahren. Die Alphabetisierungsrate Chinas lag bei 65,5 Prozent, die Indiens jedoch nur bei 43,8 Prozent. Offenbar bedeutete das etwas höhere Pro-Kopf-Einkommen Indiens nicht, dass die Inder länger oder besser lebten.


Die Farbe der Katze

In den 1980ern änderten beide Länder ihre Wirtschaftspolitik. Die Spitzenpolitiker schätzten zunehmend die „Logik des Marktes“. China wechselte von staatlicher Kontrolle zu einer gemischten Wirtschaft und Indien von einer gemischten Wirtschaft zu einem zunehmend marktdominierten System.

Deng Xiaoping erklärte bekanntlich, die Farbe der Katze sei egal, sofern sie denn Mäuse fange. Damit signalisierte er die Bereitschaft, mit Marktkräften zu experimentieren. Das geschah zunächst in Sonderwirtschaftszonen, später im ganzen Land (siehe Ayumi Konishi in E+Z/D+C 2014/12, S. 460). Indiens politische Entscheidungsträger drängten schon in den 1980ern schrittweise auf marktfreundliche Reformen. Dies gipfelte nach der Finanzkrise 1991 in einer entschiedenen Abkehr vom Dirigismus (siehe Salman Anees Soz im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2018/08).

Die neue Politik führte in beiden Ländern zu schnellerem Wachstum. Sie gehörten bald zu den am schnellsten expandierenden Volkswirtschaften weltweit. Allerdings fiel das Wachstum im gemischtwirtschaftlichen China beeindruckender aus als im zunehmend marktwirtschaftlich orientierten Indien. 1991 betrug das Pro-Kopf-BIP in China 786 Dollar und in Indien 575 Dollar (wieder zu Preisen von 2010).

Seither ist die Kluft weiter gewachsen. 2018 belief sich laut Weltbank das Pro-Kopf-BIP in China auf 7752 Dollar, in Indien aber nur auf 2100 Dollar. Die Weltbank-Statistiken zeigen China auch bei den sozialen Indikatoren vorn. So lag die Lebenserwartung dort 2018 bei 77 Jahren, in Indien aber nur bei 69 Jahren. Die Alphabetisierungsrate Chinas betrug 96,8 Prozent, Indiens nur 74,4 Prozent.

Chinas Strukturwandel vollzog sich überdies viel schneller. Der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank von 60 Prozent 1991 auf 27 Prozent 2018. In Indien ging derweil diese Quote nur von 63 Prozent auf 44 Prozent zurück. Am meisten beeindruckt, dass China zur „Fabrik der Welt“ wurde. In Indien hingegen stagniert der Anteil des verarbeitenden Gewerbes sowohl am BIP als auch in der Erwerbstätigkeit, wohingegen der Dienstleistungssektor mehr Menschen beschäftigt. Er bietet aber oft nur schlecht bezahlte Jobs ohne anspruchsvolle Qualifikationsprofile.

China hat Indien bei Wachstum und sozialer Entwicklung deutlich übertroffen. Dem kommunistischen Regime gelang es, die makroökonomische Stabilität aufrechtzuerhalten und gleichzeitig durch eine ausgeklügelte Mischung aus Industrie-, Handels- und Sozialpolitik diversen Entwicklungszielen näher zu kommen. Es gab unter anderem gewaltige Fortschritte in Forschung, Entwicklung und Hochschulbildung. Der Ausbau der Infrastruktur war spektakulär. Unterdessen spielt der chinesische Staat weiterhin eine stärkere Rolle als Eigentümer und Anteilseigner von Großunternehmen, als das der indische Staat tut. Die Synergie von Markt und Staat ist China offensichtlich auf wirksame Weise gelungen.

Beide Länder stehen heute vor großen Herausforderungen. Die Ungleichheit wächst. Viele Menschen sind informell und unsicher beschäftigt. Umweltprobleme wie Wüstenbildung, Umweltverschmutzung, die Auswirkungen des Klimawandels und dergleichen mehr nehmen zu. In beiden Ländern wird die Staatsführung zudem immer repressiver. Leider wächst auch der Antagonismus zwischen China und Indien seit einigen Monaten.

Chinas Fortschritt beeindruckt indische Wissenschaftler. Dagegen beneiden uns chinesische Intellektuelle und zivilgesellschaftliche Aktivisten – vor allem in Hongkong – um unsere „Redefreiheit“. Chinas Regime argumentierte früher gern, es räume den wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechten Vorrang vor den politischen Menschenrechten ein, um die Armut schnell zu bekämpfen. Die Ergebnisse sind nicht zu leugnen. Leider spielen die Menschenrechte aber heute in der Rhetorik der Spitzenpolitiker beider Länder keine nennenswerte Rolle mehr.


Praveen Jha ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal Nehru Universität in Delhi.
praveenjha2005@gmail.com