Global Governance
G20: Aufstieg und Niedergang
2008 wurde die Finanzkrise, die im Jahr zuvor in den USA begonnen hatte, global. Die Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers bewies, dass die US-Regierung der einsetzenden, gravierenden Kontraktion ihrer Volkswirtschaft nichts entgegensetzen konnte. Schockwellen erfassten daraufhin die ganze Welt.
Die plötzlich ansteigende Risikoscheu belastete besonders Westeuropa. Anleger wollten nur noch den allersichersten EU-Ländern Kredit geben, und die Zinsen stiegen heftig. Damit taten sich auch die europäischen Banken schwer, und zwar umso mehr, je stärker sie auf amerikanischen Finanzmärkten engagiert waren, was vor allem für britische und deutsche Institute galt. EU-Mitglieder, die auf Finanzmärkte angewiesen waren, um ihre Haushalts- oder Zahlungsbilanzdefizite zu finanzieren, standen jedenfalls vor wachsenden Problemen.
Alle vorliegenden Daten belegen, dass die US-Behörden von den globalen Wirkungen der Lehman-Pleite überrascht wurden. Ende September 2008 war klar, dass die US-Regierung planlos agierte. Präsident George W. Bushs Amtszeit war fast zu Ende. Er war ausgesprochen unbeliebt, eine geradezu klassische „lame duck“ (zu Deutsch: Versager). Kurz vor den Wahlen schien aber auch der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat, Barack Obama, kaum besser zu verstehen, was da vor sich ging.
Weder die EU noch Japan boten Perspektiven. Japans internationales Ansehen hatte ohnehin erheblich darunter gelitten, dass seine eigene Finanzkrise mehr als ein Jahrzehnt der Stagnation ausgelöst hatte. Die großen Schwellenländer – allen voran, aber nicht nur, China – schienen als einzige in der Lage, Schocks zu absorbieren und wieder auf den Wachstumspfad zurückzufinden.
Neuausrichtung
In diesem Kontext, der von Pessimismus über die Zukunft der etablierten Wirtschaftsmächte und Optimismus mit Blick auf die „Emerging Markets“ geprägt war, wurde die G20 neu ausgerichtet. Die Gruppe der 20 war tatsächlich schon zehn Jahre zuvor als Reaktion auf die damalige Asienkrise gegründet worden (siehe Kasten).
Die G20, die im Jahr 1998 erfunden worden war, war ein freundliches Forum für Spitzenleute aus Finanzministerien und Zentralbanken, die diskutierten, wie die internationale Finanzarchitektur am besten zu bewahren sei. Zehn Jahre lang taten die Teilnehmer wenig anderes, als sich auf Grundsätze der makroökonomischen Politik zu verständigen und auf nationaler wie internationaler Ebene die Liberalisierungsdoktrin zu bekräftigten.
In dieser Zeit setzte sich beispielsweise die Ansicht durch, das höchste Ziel ökonomischer Modernisierung sei die Abschaffung von Kapitalkontrollen – und die richtige Abfolge von Reformen könne dafür sorgen, dass aufstrebende Volkswirtschaften in diesem Prozess nicht mit Blick auf sich plötzlich umkehrende Kapitalströme allzu verwundbar würden. Es wurde aber weder hinterfragt, ob das funktioniert, noch, ob das erstrebenswert ist.
Die Welt steht Kopf
Dann wurde wegen der Finanzkrise von 2008 auf einmal alles anders. Die entwickelten Länder, die bislang anderen Lehren erteilt hatten, waren auf einmal ratlos. Sie verstanden nicht, wie ihnen geschah, und hatten kein Konzept, was sie dagegen tun könnten. Offensichtlich konnte die Orthodoxie, die seit den späten 1980ern herrschte, keine internationale Finanzstabilität mehr garantieren. In den USA und in der EU sank die Produktion, während die Arbeitslosigkeit anstieg. Viele hofften, dass die Schwellenländer – besonders China – den globalen Aufschwung antreiben würden.
Entsprechend wurde die G20 neu aufgestellt. Sie war nun kein Forum für Finanzminister und Notenbanker mehr. Beim Gipfel in Washington im November 2008 trafen sich die Staats- und Regierungschefs. Entsprechend mehr konnten sie potenziell bewegen. Die Zuständigkeit von Finanzministerien und Zentralbanken ist begrenzt, aber auf die Tagesordnung der obersten Staatenlenker kommt alles, was diese zu besprechen wünschen.
Die neue G20 weckte große Erwartungen. Die wichtigste Hoffnung war, dass sie die Wirtschaftspolitik international abstimmen und so einen starken, weltweiten Aufschwung auslösen würde. Zugleich schien es möglich, dass sie Lösungen für wichtige globale Dinge vereinbaren würde – von der ökologischen Nachhaltigkeit über ein faires Welthandelsregime bis hin zur Abschaffung der Armut.
Es kam anders, wie wir heute wissen. Der Anspruch auf makroökonomische Koordinierung starb schon früh, weil sich die USA mit den europäischen Ländern unter deutscher Führung über die richtige Mischung aus Konjunkturprogrammen und Sparpolitik stritten. Derzeit verlieren nun die Schwellenländer ökonomisch Fahrt, während der Aufschwung in den USA, Europa und Japan blutleer wirkt – wenn es denn überhaupt einen Aufschwung gibt. Die G20 hat nicht bewirkt, dass die multilaterale Politik auf irgendeinem Feld vorankommt.
Gründe des Scheiterns
Fünf Jahre nachdem die G20 in ihrer heutigen Form an den Start ging, gilt sie weithin als Fehlschlag. Sie hat sich nie wirklich an die wichtige Aufgabe gemacht, gemeinsame Interessen zu definieren. Die einzige Ausnahme ihrer Wirkungslosigkeit betrifft die Bankenregulierung. Immerhin schien es eine Zeitlang, als sei Konsens, dass die Regeln verschärft werden müssen. Das Ergebnis war das Basel-III-Abkommen. Der Einfluss der G20 ist heute aber auf keinem anderen Politikfeld zu spüren.
Das liegt unter anderem daran, dass die Agenda der G20 zu umfassend ist. Seitdem die Staats- und Regierungschefs die Hauptakteure sind, kann jegliches Thema auf die Tagesordnung kommen, wenn das hilft, irgendeine Interessengruppe in irgendeinem Mitgliedsland zu bedienen.
Obendrein behindert das System der rotierenden Präsidentschaft die G20. Wenn eine Regierung das Steuer übernimmt, kündigt sie ihre Prioritäten für die ganze Gruppe an, und dann ist sie ein Jahr lang im Amt. Das reicht nicht, um die Vorschläge auch nur gründlich zu prüfen, geschweige denn umzusetzen.
Anfangs war die Sorge verbreitet, die Finanzkrise von 2008 werde zu einer Weltdepression wie in den 1930er Jahren führen. Es kam aber keine „Große Depression“ sondern – schlimm genug – eine „Große Rezession“ mit darauffolgender Stagnation oder jedenfalls nur schwachem Aufschwung. Sobald klar war, dass die Krise keine explosive Wirkung entwickeln würde, prägte wieder Interessendivergenz die G20-Treffen. Die Teilnehmer besannen sich auf andere politische Konstellationen, von denen sie sich eher Erfolge versprachen.
Die G8 der hochentwickelten Wirtschaftsmächte war zwar 2008/09 diskreditiert, aber ihre Mitglieder haben diesen Zusammenschluss mittlerweile wiederbelebt. Um die Eurokrise zu managen, hat sich die EU derweil mit der Europäischen Zentralbank und dem Internationale Währungsfonds zusammengetan – bislang ohne durchschlagenden Erfolg.
Einige Schwellenländer haben sich für Strukturen außerhalb der G20 entschieden. Am auffälligsten ist derzeit BRICS, das Bündnis von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Name war ursprünglich zwar nur das Wortspiel eines Finanzmanagers, aber diese Gruppe hat mittlerweile einiges vereinbart. Sie will verschiedene Institutionen schaffen – unter anderem eine Entwicklungsbank.
Einige G20-Mitglieder, Argentinien zum Beispiel, wirken im Moment aber politisch isoliert. Andere, wie Mexiko, scheinen nicht zu wissen, wo sie strategisch hinwollen. Jedenfalls ist die G20 in keiner Weise so gestaltet, dass sie die Welt angemessen abbilden würde. Die Mitgliedschaft wurde 2008 geringfügig geändert, wobei Spanien etwa Mitglied wurde. Der riesige Kontinent Afrika mit über einer Milliarde Menschen ist aber nur von Südafrika vertreten.
Im Rückblick war die „neue“ G20 im Jahr 2008 nichts als eine improvisierte Initiative, die zeigen sollte, dass die mächtigsten Politiker der Welt nicht völlig unfähig waren, auf eine gewaltige Krise zu reagieren. Als die Lage sich später aber etwas entspannte, erwies sich die G20 schnell als dysfunktionale Einrichtung.
Fernando J. Cardim de Carvalho ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universidade Federal in Rio de Janeiro.
fjccarvalho@uol.com.br