Sommer-Special

Anziehende Megastadt ohne Sicherheit

„Die Stadt, das Meer, die Liebe“ spielt in Mumbai (ehemals Bombay). In diesem Liebesroman porträtiert Rahman Abbas muslimisches Leben in der multikulturellen Mega-Stadt. Im Gegensatz zu vielen Bestsellern aus Indien beschäftigt sich dieses Buch intensiv mit dem Leben der ärmeren Bevölkerung. Dieser Beitrag ist der zweite unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz
Das Haji-Ali-Mausoleum ist ein muslimisches Wahrzeichen Mumbais. picture-alliance/Dinodia Photo Library Das Haji-Ali-Mausoleum ist ein muslimisches Wahrzeichen Mumbais.

Ich wünschte, alle Islamskeptiker und -kritiker weltweit würden dieses Buch lesen. Es könnte ihre Haltung ändern. Sie nehmen eine bedrohliche, homogene Religionsgemeinschaft war, aber Abbas beschreibt eine ausgesprochen diverse und teils sogar gespaltene Gesellschaftsgruppe. Manche deutsche Konservative glauben, Muslime hielten sich strikt an Dogmen aus dem siebten Jahrhundert, aber Abbas erzählt von jungen Menschen die alle Facetten einer modernen Großstadt erkunden, einschließlich vorehelichem Sex, latent gewalttätiger Politik oder auch Kneipen und Restaurants. Hindu-Chauvinisten klagen, die muslimische Mehrheit bedrohe sie, aber den Protagonisten von Abbas ist klar, dass sie selbst früher oder später Pogromopfer werden können.

Die beiden Hauptfiguren sind Asrar und Hina. Asrar ist ein junger Mann, der auf Arbeitssuche von einem Küstendorf in die Millionenstadt gekommen ist. Er teilt sich einen Wohnraum mit mehreren anderen. Sie leben in Armut, sehen aber vor allem die Chancen, die ihnen die Stadt bietet. Hina dagegen kommt aus einer wohlhabenden Mittelschichtsfamilie und leidet unter einem Phänomen, das viele Europäer eher für ein Thema westlicher Nationen halten dürften: Sie fühlt sich zwischen ihren getrennt lebenden Eltern hin und hergerissen. Zugleich erwägt sie verschiedene Studien- und Berufsideen.

Die beiden verlieben sich und werden ein Paar. Ihre Beziehung überbrückt tiefe soziale Gräben, obwohl sie beide Muslime sind. Der Islam definiert nämlich nur kulturelle Dimensionen ihrer Identität, und nicht ihre Identität schlechthin. Sie lassen sich im Alltag von Neugier leiten, nicht vom Koran.

Der Roman von Abbas unterscheidet sich von Bestsellern über Indien, wie sie Amitav Ghosh, Shashi Tharoor or Jhumpa Lahiri verfasst haben. Abbas schreibt nicht aus der Perspektive der höheren Mittelschicht. Er ist in einem Slum in Mumbai aufgewachsen (siehe seinen Aufsatz im Schwerpunkt von E+Z/D+C e-Paper 2021/01) und kennt das harte Leben von Binnenmigranten. Die Betonung säkularer lebensweltlicher Prinzipien verbindet ihn allerdings mit den Bestsellerautoren.

Abbas porträtiert Mumbais Muslime, die mindestens ein Fünftel der Bevölkerung stellen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Multikulturalität des Ballungsraums von allen sozialen Gruppen geprägt wird. Hindu-Chauvinisten mögen die Stadt für sich beanspruchen, aber sie würden deren Seele töten, wenn sie wirklich alle anderen ausgrenzen könnten.

Den Hintergrund der Handlung bildet das Hochwasser, das 2005 große Teile der Stadt überflutete. Zwölf Jahre zuvor tobten hier antimuslimische Pogrome. Der Großraum Mumbai bietet rund 20 Millionen Menschen eine Heimat, aber nichts ist so sicher, wie es in Berlin, Paris oder London wäre. Elend und Dreck sind nicht zu übersehen, aber für die Protagonisten von Abbas ist das Leben hier attraktiver und faszinierender als irgendwo außerhalb der Stadt.

Das Buch erschien im Original auf Urdu mit dem Titel „Rohzin“. Diese Sprache ist eng mit Hindi verwandt, ihr Alphabet beruht aber auf der arabischen Schrift, und ihre Regeln wurden während des Mogulen-Reichs festgelegt. Heute ist Urdu die offizielle Staatssprache Pakistans, wird aber auch in Indien weiter verwendet.

Südasiatische Rezensenten halten „Rohzin“ für einen Wendepunkt in der Urdu-Literatur. Wie Abbas ohne große Rücksicht auf Traditionen den zeitgenössischen Alltag infrage stellt, ist in der Tat hochmodern. Für dieses Buch wurde der Autor mit dem wichtigsten indischen Literaturpreis, dem Sahitya Academi Award, ausgezeichnet. Die deutsche Übersetzung erschien 2018, und in Indien ist eine englische Ausgabe in Vorbereitung.


Buch
Abbas, R., 2018: Die Stadt, das Meer, die Liebe. Heidelberg, Draupadi.


Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit /D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu