Nachhaltigkeit
Von der Bereitschaft, das Richtige zu tun
Wenn die Menschen die Erde als Lebewesen betrachteten, würden sie ihr nicht so viel Schaden zufügen. Das ist Zulligers These, und deshalb propagiert er diese Weltsicht. Wasser, Erde oder Steine als lebendig zu betrachten, mag auf den ersten Blick esoterisch anmuten. Doch wenn man sich auf die im Buch vertretene ganzheitliche Betrachtungsweise einlässt und anerkennt, dass alles mit allem zusammenhängt, ergibt es durchaus Sinn. Wasser und Erde ernähren Pflanzen und Tiere, und auch Steine dienen als Lebensraum und liefern lebenswichtige Mineralien. Somit ist die Erde als System lebendig, und wir Menschen sind Teil davon.
Diese Betrachtungsweise ist altes Menschheitswissen, das sich in vielen Religionen und Weltanschauungen findet. Zulliger selbst bezieht sich im Titel seines Buches auf die griechische Erdgöttin Gaia, eine Muttergottheit, die alles Lebendige hegt und pflegt. Leider hätten wir dieses Wissen über Jahrhunderte ignoriert, bedauert der Autor – eine Aussage, die sicher nicht allgemein, aber auf den Teil der Menschen zutrifft, der die Erde bis an die Überlastungsgrenze ausgebeutet hat.
Der sogenannte moderne Mensch im städtischen, von Technik dominierten Lebensraum nimmt sich als abgekoppelt von der Natur wahr. Biodiversität zum Beispiel ist „draußen“, nicht unmittelbar da, wo wir leben, und wird wohl überwiegend als etwas Gutes angesehen, aber nicht als Voraussetzung für unser (Über-)leben. Zulliger zeigt auf, dass diese Annahme falsch ist. Die neueste Forschung belege, dass die Diversität der verschiedenen Spezies notwendig sei, um das Ökosystem stabil zu halten. Artenvielfalt ist demnach kein Luxus, sondern Notwendigkeit. „Wenn zum Beispiel durch globale Erwärmung Arten aussterben, verliert das Ökosystem die Fähigkeit, sich zu regenerieren, und damit seine wichtige lebenserhaltende Funktion“, betont der Autor.
Das System Erde zu erhalten heißt heute Nachhaltigkeit. Hinter dem Begriff stand ursprünglich eine Maxime aus der Forstwirtschaft: Schlage nur so viel Holz ein, wie nachwachsen kann. Durchgesetzt hat sich eine dreidimensionale Definition, die ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit einschließt. Laut Zulliger basiert nachhaltiges Verhalten auf folgenden Prinzipien:
- Das lebensspendende Ökosystem soll nicht zerstört werden.
- Es gibt keinen Abfall, denn alles geht irgendwo hin. Alle Stoffkreisläufe müssen geschlossen werden, das heißt, am Ende des Lebenszyklus eines Produktes oder eines Prozesses müssen die Stoffe wiederverwertet werden können.
Wenn wir die Risiken unseres Tuns nicht abschätzen können, sollen wir dieses unterlassen (das Vorsorgeprinzip).
Der Begriff Nachhaltigkeit ist in vielen Teilen der Welt unbekannt. Oder er ist mit negativen Vorstellungen von Verzicht oder utopischen Forderungen verbunden. Das Konzept hingegen ist weder neu noch negativ besetzt. Zulliger führt das Beispiel von Benediktiner-Mönchen im Kloster Einsiedeln in der Schweiz an, die seit mehr als 1000 Jahren unter anderem nach den Grundsätzen lebten, langfristig zu denken und maßzuhalten. Auch im Buddhismus gilt es, achtsam zu leben und so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Hingegen gibt es wohl keine Religion, die Zerstörung, Ausbeutung und Verschwendung propagiert.
Wenn der Sinn von Nachhaltigkeit, wie im Buch dargelegt, auf der Hand liegt, warum verhalten sich die meisten Menschen dann nicht entsprechend? Zulliger erklärt das so: „Viele von uns nehmen an, dass unser Verhalten kaum zu schlimmen Folgen führen könnte, oder wir achten schlicht nicht auf die potenziellen Gefahren.“ Schließlich erfordere der Weg zur Nachhaltigkeit „breites Wissen, Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, das Richtige zu tun“.
Den eigenen Lebensstil und das Konsumverhalten zu ändern ist nicht sehr populär, wenn dies mit Verzicht und Einschränkungen einhergeht. Viele Menschen setzen darauf, globale, existenzielle Bedrohungen wie den Klimawandel mit politischen Maßnahmen, Marktinstrumenten oder technischen Innovationen in den Griff zu bekommen. Eine weltweite CO2-Besteuerung beispielsweise hält auch Zulliger für sinnvoll. Fakt ist aber, dass der politische Wille dafür bislang fehlt. Und ob verbesserte – also etwa „sauberere“ oder effizientere – Technologien den Lebensstil und hohen Konsum vieler Menschen erhalten können, zieht der Autor in Zweifel. Bisher sei es jedenfalls nicht gelungen, damit den Ressourcenverbrauch zu stabilisieren oder zu verringern. „Weltweit gab es noch nie so viele Innovationen wie heutzutage, und dennoch steigt der Fußabdruck kontinuierlich schneller als die Bevölkerung an.“ In der Tat war der Ausstoß von Kohlendioxid 2017 so hoch wie nie zuvor.
Was einem raschen Wandel vor allen Dingen entgegenstehe, so Zulliger, sei die „Beharrlichkeit der Evolution“. An Erkenntnissen mangelt es nicht, und auch machbar ist vieles. Doch auch die Weltsicht müsse sich verändern, und das brauche viel mehr Zeit. Viel Zeit haben wir aber nicht mehr, wie uns Klimaforscher und andere Wissenschaftler eindrücklich aufzeigen. Für dieses Dilemma bietet auch Zulliger keine Lösung. Etwas Mut macht lediglich die Erkenntnis, dass der Mensch es selbst in der Hand hat, das Ruder noch rechtzeitig herumzureißen, um das Überleben der Erde und damit auch sein eigenes zu sichern. Der Autor fasst das mit dem Satz zusammen: „Wir sind das Problem, aber auch die Lösung.“
BUCH
Zulliger, H.-R., 2018: Gaias Vermächtnis. Plädoyer für eine integrale Weltsicht. Rüffer & rub, Zürich.