Frauen

Veränderung sozialer Normen

Die Organisation Bangr Nooma kämpft seit 1998 für ein Ende der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation – FGM) in Burkina Faso. Obwohl die Praxis gesetzlich verboten ist, wird sie noch immer angewandt. Staatliche Interventionen alleine reichen nicht aus. Es braucht das Engagement von zivilgesellschaftlichen Akteuren, um auch in abgelegenen Regionen die Überwindung von FGM zu erreichen. Irma Bergknecht, Vorstandsvorsitzende von Terre des Femmes, und Renate Staudenmeyer, zuständig für die internationalen Kooperationen der Organisation, sprachen mit Rakieta Poyga, Frauenrechtsaktivistin und Gründerin von Bangr Nooma.
In Burkina Faso sind immer noch fast vier von fünf Frauen beschnitten. AP photo/picture-alliance In Burkina Faso sind immer noch fast vier von fünf Frauen beschnitten.

Wie sieht die derzeitige Situation hinsichtlich der weiblichen Genitalverstümmelung in Burkina Faso aus?
Die weibliche Genitalverstümmelung ist in Burkina Faso leider immer noch sehr verbreitet. Daran hat das gesetzliche Verbot, das 1996 eingeführt wurde, noch nicht viel geändert. Zahlen von UNICEF belegen, dass 2013 immer noch 76 Prozent der Mädchen und Frauen Opfer dieser traditionellen Praxis waren. Die Frauen aus meiner Generation, ich bin Jahrgang 1960, sind fast alle beschnitten. Erst bei den jüngeren Frauen merkt man allmählich, dass FGM nicht mehr durchgängig angewendet wird. Zurzeit befindet sich Burkina Faso in einer politischen Krise. Daher steht die Wiederherstellung von stabilen Verhältnissen im Vordergrund des politischen Handelns. So läuft der Bereich Frauenrechte/Kinderrechte, der sowieso schon marginalisiert ist, Gefahr, noch mehr an den gesellschaftlichen Rand gedrängt zu werden. Da müssen wir kontinuierlich am Ball bleiben.

Welche Arten von FGM gibt es denn in Burkina Faso?
In Burkina Faso werden zwei verschiedene Arten praktiziert. Am häufigsten wird die vollständige oder teilweise Entfernung der Klitoris vorgenommen. Bei der zweiten Form werden die Klitoris und die kleinen Schamlippen, manchmal sogar Klitoris und kleine und große Schamlippen vollständig oder teilweise entfernt. Die Beschneidung wird meist unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt. Oft leiden die Frauen unter der Traumatisierung durch den Eingriff, aber auch unter medizinischen Folgeproblemen wie Wucherungen, Verwachsungen, Fistelbildungen etc. Ich selbst habe bei der unglaublich schmerzhaften Geburt meiner Tochter 1998 am eigenen Leib zu spüren bekommen, welche furchtbaren Folgen die Beschneidungspraxis hat. Das war für mich der Anstoß, die Organisation Bangr Nooma zu gründen.

Wie lässt sich erklären, dass FGM trotz der bekannten schlimmen Auswirkungen noch immer praktiziert wird?
Die weibliche Genitalverstümmelung ist tief in der Tradition Burkina Fasos verankert. Sie hat ihre Wurzeln in traditionellen beziehungsweise religiösen Wertvorstellungen. Erst nach einer Beschneidung werden die Mädchen und Frauen traditionell verheiratet. FGM ist somit eine Voraussetzung für die Verheiratung. Ein beschnittenes Mädchen ist für die Familie aufgrund von falschen Ehrvorstellungen für ihr Ansehen sehr wichtig. Zudem verstehen die Beschneiderinnen FGM als eine Art „sozialen Dienst“, aber in Wirklichkeit ist es ihr Beruf, mit dem sie ihren Lebensunterhalt finanzieren. Auch profitieren sie und die Dorfchefs von einem höheren Ansehen in der Dorfgemeinschaft, je mehr Mädchen beschnitten sind. Seit FGM in Burkina Faso verboten ist, werden die Mädchen immer früher beschnitten, manchmal bereits im Säuglingsalter. Das ist eine Problematik, auf die wir mit neuen Interventionsstrategien reagieren müssen.

Wie Sie sagten, ist FGM seit 1996 in Burkina Faso gesetzlich verboten, und trotzdem sind die meisten Mädchen und Frauen davon betroffen. Wie ist das zu erklären? Sind die traditionellen und religiösen Werte stärker als gesetzliche Regelungen?
Mehr als 80 Prozent der Burkinabe sind Analphabeten, die sich meistens nur in ihrer Dorfgemeinschaft bewegen. Sie fühlen sich isoliert vom restlichen Teil des Landes und denken, dass das Gesetz nicht für sie, sondern nur für die Menschen in den Städten gedacht ist. Das Verbot von FGM empfinden sie als Angriff auf ihre traditionellen Werte. Somit werden die traditionellen und religiösen Rechte in der Tat stärker gewichtet als staatliche Regulierungen. Von staatlicher Seite muss mehr mit den Menschen auf dem Land geredet werden, um sie für das Problem zu sensibilisieren. Aufklärungsarbeit vor Ort ist der Schlüssel. Zwar hat sich der gestürzte Präsident Blaise Compaoré jährlich mit Beamtinnen und Dorfchefs in einer Provinzstadt getroffen, um über FGM zu sprechen. Jedoch war an diesen Gesprächen nur die Elite beteiligt, weshalb die Inhalte nicht in die gesamte Dorfbevölkerung getragen wurden. Unsere Aufklärungsarbeit erreicht viel mehr Menschen. Wir gehen in die Dörfer und sprechen mit allen Bewohnern, was viel Geduld und Anstrengung erfordert. Aber letztendlich lohnt es sich: Die meisten wenden sich nach unserer Aufklärungsarbeit von der weiblichen Genitalverstümmelung ab. Sobald sie wissen, wie schädlich FGM ist, können sie die Gründe für das gesetzliche Verbot nachvollziehen.

Was passiert, wenn ein Beschneidungsfall bekannt wird? Gibt es eine strafrechtliche Verfolgung?
Wenn bekannt wird, dass eine Beschneidung stattfinden soll oder bereits vollzogen wurde, werden alle Beteiligten in einem gerichtlichen Verfahren bestraft. Nicht nur die Beschneiderinnen werden strafrechtlich verfolgt, sondern alle, die davon wussten und es nicht an die Behörden gemeldet haben. Die Höchststrafe ist eine Gefängnishaft von drei Jahren. In unseren Interventionsgebieten ist die Sensibilität für FGM sehr stark. Jeder greift ein, wenn er von einem Fall erfährt, auch die Dorfchefs und die sogenannten Traditionshüter.

Wie haben Sie es mit Bangr Nooma geschafft, sowohl traditionelle Chefs als auch die Bevölkerung für das Nein zu FGM zu gewinnen?
Bevor wir überhaupt aktiv werden, suchen wir das Einverständnis des jeweiligen Dorfchefs, denn ohne ihn geht gar nichts. Wenn wir das haben, bauen wir die Aufklärungsarbeit in drei Phasen auf. Es gibt immer ein von Bangr Nooma geschultes Team aus einer Frau und einem Mann, das die Sensibilisierungsarbeit in einer bestimmten Region übernimmt. In der ersten Phase suchen sie das Gespräch mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wie Lehrerinnen und Lehrern, Polizisten, traditionellen Hebammen und Beschneiderinnen. In der zweiten Phase wird die gesamte Dorfbevölkerung anvisiert. Über Hausbesuche, Familiengespräche, Diskussionen im Dorf, Debatten über Kinofilme, Sketche und vieles mehr werden Informationen und Wissen vermittelt. Oft dauert es einige Zeit, bis die Dorfbevölkerung Vertrauen gefasst hat und sich damit auseinandersetzt, dass FGM überwunden werden kann und muss. Am Ende dieser Phase findet eine große Versammlung statt, bei der alle wichtigen Dorfvertreter öffentlich das Nein zu FGM bekunden und die Nichtbeschneidung als neue soziale Norm deklarieren. Bei dieser Zeremonie werden symbolisch Beschneidungswerkzeuge „begraben“. Danach beginnt die dritte Phase mit der Einrichtung eines Dorfkomitees gegen FGM. Freiwillige wachen darüber, dass kein Mädchen mehr in ihrem Dorf beschnitten wird. Sie führen Buch über Geburten und gehen zu den Familien, die ein Mädchen geboren haben, und klären sie auf.

Was sind die größten Herausforderungen bei den Aufklärungskampagnen?
Die besondere Herausforderung besteht darin, dass wir das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen müssen. Das ist angesichts der beschriebenen Isolation schwierig. Die Gebiete, in denen wir aktiv sind, muss man sich zudem wie Slums vorstellen: Es gibt keine gute Infrastruktur, und alles ist sehr chaotisch. Die Menschen sind mit zahlreichen existenziellen Problemen konfrontiert, sie haben keinen Zugang zu Wasser oder Strom, leben in extremer Armut. Anstatt mit FGM setzen sie sich mit vorrangig erscheinenden Problemen auseinander. Erst wenn wir das Vertrauen der Menschen gewonnen haben, nehmen sie die neuen Informatio­nen und das Wissen auf, das wir vermitteln wollen. Gerade an der Schnittstelle zur Bevölkerung sind wir als NGO besser aufgestellt als staatliche Akteure, weil das Misstrauen gegenüber staatlichen Strukturen nach wie vor hoch ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Arbeit von NGOs ganz wichtig und viel effektiver ist.

Sind diese Erfolge denn auch sichtbar?
Ja, auf jeden Fall. Dank unserer Aufklärungskampagnen in 800 Dörfern konnten bislang mehr als 33 000 Mädchen vor einer Beschneidung bewahrt werden. Wir können die Zahlen relativ gut nachhalten, weil die Dorfkomitees ja die Geburtslisten führen. Darüber hinaus haben sich 400 Beschneiderinnen und ihre Assistentinnen von FGM abgewendet und engagieren sich zum Teil in unserer Kampagnenarbeit. Insgesamt haben wir seit unserer Gründung mehr als 800 000 Menschen erreicht. Die Unterstützung unserer internationalen Kooperationspartner hilft dabei sehr. Wir bekommen keine finanzielle Unterstützung vom Staat. Deshalb sind wir auf Hilfe von außen angewiesen. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Hilfe. Internationale Vernetzung und fachlicher Austausch über Strategien im Kampf für die Verbesserung von Frauenrechten prägen ebenfalls unsere Zusammenarbeit.


Rakieta Poyga ist burkinische Frauenrechtsaktivistin und Gründerin der Organisation Bangr Nooma.
bangr.nooma1@yahoo.fr

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