Indonesien
Unendliche Kraft
Ein Teenager mit lockigen Haaren huscht in die Gasse zwischen den beiden Häusern. Geräuschlos bahnt er sich seinen Weg in den Hinterhof. Ich kann ihn von der kleinen Buchhandlung Toko Buku Kecil aus sehen, in der ich mit einem Mitarbeiter – Slatem – zusammensitze. Die Buchhandlung wurde von Ratna Indraswami Ibrahim gegründet, einer erfolgreichen Autorin und Aktivistin. Slatem erklärt, dass der Teenager sicher ein Buch zurückbringen und vielleicht ein neues ausleihen möchte. Er sei ein Straßenjunge, der gerne lese, fährt er fort. Die meisten Straßenkinder seien zu schüchtern, um in die Bibliothek zu kommen – vor allem, wenn Gäste da sind.
“Mbak Ratna”, sagt Slatem, “wollte, dass sie immer Zugang zu Büchern haben sollten und erlaubte ihnen daher, in die hinteren Räume zu kommen.“ Auf Javanesisch heißt „Mbak“ ältere Schwester. Slatem benutzt diesen Begriff der Tradition entsprechend als ehrenvolle Anrede für die Schriftstellerin, obwohl er nicht mit ihr verwandt ist.
Schon viele Jahre bevor sie im März 2011 starb, verwandelte Ratna ihr Wohnzimmer in einen Buchladen und -Verleih. Slatem leitet den Betrieb heute und ist daran gewohnt, mit den Straßenkindern zu arbeiten. Er bringt ihnen beispielsweise bei, Batik-T-Shirts zu machen. Der Erlös vom Verkauf dieser T-Shirts hilft, den kleinen Laden, die Ausleihe und die sonstigen Angebote am Leben zu halten.
Ratna, diese schmächtige Rollstuhlfahrerin mit Brille, hat Gedichte und über 400 Kurzgeschichten und Romane geschrieben. Menschen aller Altersklassen und vieler Nationalitäten wurden zu ihren Fans. Viele von ihnen kamen sie auch besuchen – um die Kunst des Schreibens zu lernen, Ideen auszutauschen oder schlicht um Zeit mit ihr zu verbringen. Ratna empfing sie alle.
Ratna war mehr als bloße Schriftstellerin. Sie kämpfte auch unermüdlich dafür, das Leben all der Menschen zu erleichtern, die ausgeschlossen waren oder mit einem Handicap leben mussten. Vielleicht machte ihre eigene Situation sie sensibel für deren Schicksal; vielleicht brauchte sie schlicht Inspirationen für ihre Geschichten. Jedenfalls war „Mbak Ratna“ selbst eine Inspiration für viele Menschen. Ihrer engen Freundin und Lektorin A Elwiq Pr sagte sie oft: „Wir müssen über uns hinauswachsen.“ Mit „wir“ meinte sie all jene, die mit einer Behinderung leben müssen, wie Elwiq erklärt.
Eine mündliche Geschichtenerzählerin
Ratna wurde am 24. April 1949 in der Stadt Malang im hügeligen Osten der Insel Java als fünftes von zehn Geschwistern geboren. Sie war ein lebhaftes Kind mit starkem Willen. Sie kletterte auf Bäume und war immer zu Streichen aufgelegt. Mit neun Jahren aber erkrankte sie an Rachitis, einer Knochenerkrankung, die zu Wachstumsstörungen des Unterkörpers und der Extremitäten führt. Sie kämpfte dagegen an, musste aber schließlich mit vielen Einschränkungen leben.
Nachdem Ratna über geraume Zeit zu Hause unterrichtet worden war, bestand sie darauf, in die Schule zurückkehren zu dürfen. Ihre Geschwister und die wohlhabenden Eltern unterstützten sie und taten alles dafür, dass sie eigenständig leben konnte. Nach dem Schulabschluss schrieb Ratna sich an der Universität ein, um Betriebswirtschaft zu studieren. Dann jedoch brach sie das Studium ab und entschied sich für eine Karriere als Schriftstellerin: Schreiben war von klein auf ihre Leidenschaft gewesen.
Ihre ersten Geschichten tippte Ratna unter großen Mühen mit zwei Fingern. Als jedoch ihre Kraft nachließ und ihre Arme schwächer wurden, war sie auf Hilfe angewiesen. Von da an entwickelte sie ihre Ideen und Geschichten im Kopf und diktierte sie als fertige Stücke einer Schreibhilfe.
Rini Widyawati begann mit 17 Jahren, für Ratna zu arbeiten. Sie lernte schnell und wurde Ratnas erste Schreibhilfe und Vertraute. Doch alle guten Dinge haben ein Ende. Rini fand Arbeit in Hongkong. Aber auch dort ist sie der Literatur treu geblieben: Rini ist heute ein Förderin der Literatur indonesischer Arbeitsmigranten. Ratna half Rini, ihr das erste Buch zu veröffentlichen.
Ratna berichtete später, sie habe nach Rinis Abreise unter Schreibblockade gelitten. Erst Monate später überwand sie diese und begann, ihre Geschichten einer Gruppe von Freunden zu diktieren. Eine von ihnen war die Literaturstudentin Nur Lyla Ratri von der Brawijaya University, an der auch Ratna studiert hatte. Sie war ihre letzte Schreibhilfe.
Andere Talente
In den späten 70er Jahren leitete Ratna die Behindertenorganisation Yayasan Bhakti Nurani. Bald schon wollte sie auch in Malang eine Gruppe aufmachen. Ihre enge Freundin Hastari E. Pamintasih erzählt, dass Ratna sich für viele Dinge einsetzte: für breitere Türen, damit Rollstühle durchpassten, für mehr Aufzüge und Rampen anstelle von Treppen in öffentlichen Gebäuden, oder für Bürgersteige, auf denen alle Bürger sicher die Straße entlang gehen können. Die Freundinnen und ihre Organisation kämpften für Mitsprache und machten politische Lobbyarbeit. Obwohl sie oft hingehalten wurden, machten sie und ihre stetig wachsende Gruppe weiter Druck – und wiesen immer wieder darauf hin, dass Indonesien 1974 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hatte.
Noch heute treten Hastari Tränen in die Augen, wenn sie von Ratna erzählt. Sie erinnert sich, dass ihre „Mentorin“ das Wort „disability“ (Behinderung) ablehnte, und stattdessen von „diffability“ (in Anlehnung an „different“ – „anders“) sprach: „Ratna sagte, dass wir nicht behindert seien etwas zu tun, sondern dass wir einfach nur andere Talente haben“. Hastari humpelt, weil sie als Kind an Polio erkrankte.
„Wie sollen wir unsere Bedürfnisse äußern, wenn wir nicht einmal die Stufen zum Rathaus hinauf kommen?“, fragte Ratna einst. In einem Interview mit der Tageszeitung Jakarta Post scherzte sie 2007, dass sie vielleicht eine politische Partei gründen sollte: „In Indonesien gibt es rund 10 Millionen Wähler mit Behinderungen – dann würden die Gesetzgeber uns vielleicht endlich beachten.“ Ratna wusste sehr wohl, dass viele der „diffabled“ oder „andersbefähigten“ Menschen nicht so viele Möglichkeiten hatten wie sie selbst.
Ratna setzte sich aktiv für öffentliche Belange ein. 1991 gründete sie die Umweltorganisation Entropic Malang. Als Dorfbewohner gegen eine Zwangsumsiedelung demonstrierten, sah man sie in ihrem Rollstuhl vorneweg fahren. An diese Szene erinnern sich viele, denn Ratna machte damals den Eindruck einer mythischen Heldin.
Der Journalist Eko Bambang Subiantoro berichtete von der Demo für die nationalen Nachrichten. Er erinnert sich, wie die Gruppe um Ratna mitten in der angespannten Situation in Gelächter ausbrach. Ratna hatte sich beschwert, dass die Aktivisten zu weit zurück fielen. Jemand hatte spaßend erwidert, dass sie froh sein könne, im Rollstuhl herumgefahren zu werden, während die anderen den ganzen Weg laufen müssten. Das Lachen löste die Spannung zwischen der Polizei und den Demonstranten.
Menschen zusammenbringen
„Ratna war nicht nur eine Schriftstellerin. Sie hatte die Gabe, Menschen zusammenzubringen“, sagt ihre langjährige Freundin Elwiq. „Sie brachte sogar Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen. Sie war ein facettenreiches Juwel.“
„Schon mit ihr zusammenzusein, war bereichernd“, fährt sie fort. Zusammen mit Ratna hat Elwiq das Pelangi Forum of Scientific Studies gegründet. “Pelangi” bedeutet Regenbogen. Die Organisation setzt sich für Bildung für Frauen ein. „Frauen müssen die patriarchalische Kultur durchbrechen, die sie klein hält“, sagte Ratna. „Menschen müssen ihren Horizont erweitern und arbeiten können, damit sie für sich selbst sorgen können.“ Elwiq meint, dass Ratna auch Feministin war, vor allem aber sei sie Humanistin gewesen.
Auch wenn sie ihren Überzeugungen immer treu blieb, so meint Elwiq doch, dass Ratnas Ton in späteren Jahren moderater wurde. Das war, als sie begann, sich regelmäßig mit religiösen Autoritäten zu treffen. Sie besuchte Religionsschulen und unterrichtete Schülerinnen in erzählerischem, kreativem Schreiben. Elwiq erzählt, Ratna habe ihren Glauben und inneren Frieden gefunden und sei als gläubige Muslimin zu einer starken Stimme gegen religiöse Diskriminierung geworden.
Der emotionale Wandel ist auch in ihren Schriften deutlich zu spüren. Elwiq ist überzeugt, dass Ratnas letztes Buch „1998“ den Höhepunkt ihres Schaffens markierte. Im Jahr 1998 erzwang eine Protestbewegung in Indonesien den Rücktritt des Diktators Suharto. Dieses historische Ereignis bildet den dramatischen Hintergrund des Romans. Er kreist um Aktivisten und Studenten, die während der politischen Unruhen verschwanden oder getötet wurden. Das Buch erzählt auch von der Gewalt gegen chinesische Minderheiten in vielen Städten. Die Botschaft ist, dass es nötig ist, eine Nation zu schaffen, in der Menschen unterschiedlicher Gemeinschaften und Ethnien friedlich und gleichberechtigt zusammenleben können.
Es ist der Vorabend des 1. Mai 2014 in Malang. Das Büro der Union indonesischen Arbeitsmigranten veranstaltet eine viertägige Konferenz. Rund 30 Personen sitzen im Kreis, die anderen bereiten die Demonstration für den Tag der Arbeit vor. In einer Ecke begleitet ein junger Mann ein paar Verse auf der Gitarre. Die Anwesenden singen abwechselnd, tragen Gedichte vor und erzählen von ihren Erfahrungen. Bonari Nobonenar, Redakteur bei der Lokalzeitung Jawa Pos, spricht über Ratna. Für die Menschen hier ist sie eine Heldin. Und sie bleibt eine Inspiration für all jene, die weiterhin für ihren Traum von Frieden und sozialer Inklusion kämpfen.
Edith Koesoemawiria ist freie Journalistin. Sie arbeitet derzeit unter anderem an der Herausgabe eines deutschen Buches mit zwölf indonesischen Kurzgeschichten – darunter auch eine von Ratna Indraswari. Es wird dieses Jahr im Sindihoni Verlag erscheinen.
hidayati@gmx.de