Frühkindliche Entwicklung
Verschiedene Potenziale
Frühkindliche Entwicklung und der Umgang von Betreuungspersonen mit dieser sind global sehr unterschiedlich. Bei unseren Recherchen in einem Dorf im ländlichen Kenia fanden wir den zweijährigen Kibet, der allein auf einem Baumstumpf saß, wimmerte und mit den Füßen strampelte; sein Gesichtsausdruck voller Wut und Elend. Seine Mutter hackte daneben Holz und erklärte sich den Wutanfall ihres Kindes schlicht mit: „Kasinyin“ – wörtlich „seine Arbeit“. Ihr Sohn „mache nur sein Ding“ und werde bald selbst darüber hinwegkommen. Beispiele dieser Art – ob sie anstrengen oder bezaubern – zeugen von wachsender Autonomie und der Fähigkeit, sich allmählich selbst im Verhältnis zu anderen wahrzunehmen. Wie Betreuungspersonen darauf reagieren, ist jedoch kulturell unterschiedlich.
Gleichzeitig führen die sich entwickelnden Fähigkeiten eines Kindes zu neuen Anforderungen in seiner „Entwicklungsnische“, dem kulturell strukturierten Umfeld des täglichen Lebens. Kinder sollen oft „Entwicklungszeitplänen“ entsprechen, die Überzeugungen von Betreuungspersonen widerspiegeln, wann bestimmte Fähigkeiten erworben sein sollten.
Die Erziehungswissenschaftlerin Marea Tsamaase befasste sich mit den Erwartungen von Großmüttern an Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren in Botsuana. Darin untersuchte sie Fähigkeiten, die für Selbstversorgung, Kommunikation, das Erlernen von Bräuchen und die Übernahme von Hausarbeiten notwendig sind. Von dreijährigen Kindern erwarteten die Großmütter, dass sie sich selbst anziehen, selbstständig essen und vor allem einfache Befehle befolgen können. Fünfjährige sollten in der Lage sein, einen Teil ihrer Wäsche selbst zu waschen und beim Kochen zu helfen. Das dabei von den Großmüttern verwendete Wort für „klug“ ist eng mit sozialen Fähigkeiten verknüpft und bezieht sich etwa darauf, Aufgaben im Haushalt – zum Beispiel Stühle für Besuch zu holen – und Verantwortung zu übernehmen.
Die Vorstellung von Intelligenz als sozial eingebettetes Phänomen gibt es in vielen subsaharischen Gemeinschaften. Die Kipsigi im Westen Kenias beurteilten die Intelligenz von Kindern etwa häufig nach ihrer Fähigkeit, Aufgaben im Haushalt ohne Aufsicht zu erledigen. Ähnliche Beobachtungen gibt es aus Sambia, Nigeria und der Elfenbeinküste. Erziehung zielt hier darauf ab, Kindern bereits früh eine Vielzahl von Aufgaben im Haushalt zu übertragen, einschließlich der Betreuung jüngerer Geschwister.
Auch in westlichen Gesellschaften haben kulturell geprägte Entwicklungspläne Einfluss auf die Entwicklung von Fähigkeiten je nach Altersstufe und prägen Eltern, Lehrkräfte und politische Entscheidungen. Eine Studie mit Vorschulen und Eltern aus Italien, Spanien, den Niederlanden und den USA ergab, dass es zwar ähnliche Pläne für frühkindliche Bildung gibt, sich jedoch zugrundeliegende Absichten unterscheiden.
In Italien besuchen fast alle Kinder von drei bis fünf Jahren die Vorschule. Dort nehmen sie an geplanten Aktivitäten wie Spielen ebenso teil wie an expressiven oder motorischen Übungen. Im letzten Vorschuljahr kommen erste Lernübungen hinzu, aber es wird mehr Wert auf die Einhaltung von Regeln gelegt – etwa vorm Sprechen die Hand zu heben oder bei strukturierten Aktivitäten sitzen zu bleiben. Für den Schriftspracherwerb werden zum Teil gezielte vorschriftliche Übungen eingeführt, ebenso wie phonologische Übungen zum Erlernen des Alphabets und Übungen zu Zahlen.
In den Niederlanden beginnt die allgemeine Vorschulerziehung mit dem vierten Geburtstag des Kindes und ist in die Grundschule integriert; die Inhalte gleichen jedoch dem italienischen System.
Schulische Fähigkeiten stehen im Vordergrund
Im Gegensatz zur frühkindlichen Erziehung in Westeuropa werden drei- bis vierjährige Kinder in den USA unterschiedlich betreut – mal zu Hause bei der Familie, bei einem Babysitter, in einer Kindertagesstätte oder in der Vorschule. In den letzten Jahren ist der Druck auf Erziehende und Eltern in den USA gestiegen, den schulischen Lernprozess zu beschleunigen. Eine Kindergärtnerin aus Connecticut berichtete während unserer Forschung: „Mittlerweile bringen wir Vorschulkindern bei, was früher in der zweiten Klasse gelehrt wurde.“ Entsprechend nahmen US-Eltern ihre Rolle bei der Vermittlung schulbezogener Fähigkeiten wahr: Fast drei Viertel hielten es für wichtig, ihren Kindern schulische Fähigkeiten beizubringen, bevor sie in die formale Bildung eintreten.
Dieser Druck ist vor allem durch mediale Aufmerksamkeit gewachsen. Medien berichten häufiger, wie wichtig es sei, die „Gehirnentwicklung“ in den ersten zwei bis drei Lebensjahren durch pädagogische Maßnahmen zu unterstützen, bevor die Chancen eines Kindes, sein volles Potenzial zu nutzen, unwiederbringlich verloren gingen.
Ironischerweise vernachlässigt das in internationalen Veröffentlichungen wie „Nurturing Care for Early Childhood Development“ von UNICEF, WHO und Weltbank hervorgehobene Ziel, Kindern zu helfen, „ihr volles Potenzial auszuschöpfen“, die große Bandbreite an Fähigkeiten, die für eine erfolgreiche Entwicklung in unterschiedlichen kulturellen Kontexten erforderlich sind. Stattdessen wird empfohlen, dass Eltern den aktuellen westlichen Mittelschichtspraktiken folgen, die auf eine frühe akademische Entwicklung und Autonomie abzielen.
Link
Harkness, S., Super, C. M., Bonichini, S., Ríos Bermúdez, M., Mavridis, C., van Schaik, S. D. M., Tomkunas, A., & Palacios, J. (2020). Parents, preschools, and the developmental niches of young children: A study in four western cultures. New Directions for Child and Adolescent Development, 170, 113-142.
http://dx.doi.org/10.1002/cad.20343
Sara Harkness ist Sozialanthropologin und untersucht in ihren Studien weltweit Kinder und Familien.
sara.harkness@uconn.edu
Charles M. Super ist Entwicklungspsychologe. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Entfaltung der frühen Entwicklung in verschiedenen menschlichen Kulturen.
charles.super@uconn.edu