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Queere Menschen

Errungenen Fortschritt verteidigen

In Deutschland hat sich für queere Menschen in den vergangenen Jahrzehnten viel getan. Zugleich sind sie aber weiterhin Opfer gezielter physischer und psychischer Gewalt, und die offiziellen Zahlen der Hasskriminalität gegen sie steigen an. Alle Demokrat*innen sollten sich für ihre Menschenrechte einsetzen.
Christopher Street Day in Mainz im Juli 2023. picture-alliance/dpa/Helmut Fricke Christopher Street Day in Mainz im Juli 2023.

Der queerpolitische Fortschritt in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ist eine Erfolgsgeschichte. Es war nicht zuletzt die zivilgesellschaftliche Bürgerrechtsbewegung, die die Rechte und Anerkennung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*, intergeschlechtlichen und weiteren queeren Menschen (LSBTIQ*) vorangetrieben hat. Seit 1994 werden in Deutschland einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen nicht mehr kriminalisiert. 2001 wurde die eingetragene Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt – ein entscheidender Schritt für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe 2017. Im vorigen Jahr erinnerte der Deutsche Bundestag am Tag der Opfer des Nationalsozialismus zum ersten Mal mit einer Gedenkstunde an die queeren Opfer dieses Unrechtsregimes.

Der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) ist die größte queerpolitische Interessenvertretung des Landes und seit knapp 35 Jahren aktiv. Heute hören wir in den Medien und an unseren Infoständen immer wieder die Frage, warum es uns noch brauche: „Irgendwann ist es doch mal gut.“

Diese scheinbar harmlose Haltung ist nicht unproblematisch. Sie kann zum einen die gesellschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber den anhaltenden und sich aktuell verschärfenden Problemen verstärken: Täglich werden in Deutschland Menschen verbal und körperlich angegriffen, weil die Täter*innen ihren Hass auf LSBTIQ* gewalttätig ausleben. Zum anderen kann sie reaktionäre Bewegungen befördern, die wir aktuell beobachten: Die Akzeptanzwerte sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sinken hierzulande erstmals seit Jahrzehnten. Hinzu kommen die jüngsten Wahlerfolge der AfD, die sich wiederholt mit queerfeindlichen und rechtsextremen Parolen positioniert hat.

Die errungenen Fortschritte in der Gleichstellung queeren Lebens sind keine Selbstverständlichkeit; menschenfeindliche politische Kräfte könnten sie wieder rückgängig machen. Kürzlich hat beispielsweise die rechtsgerichtete Regierung in Italien lesbischen Müttern die Mutterschaft nachträglich wieder aberkannt. Solche Entwicklungen machen queeren Menschen und ihren Verbündeten Angst. Queere Menschen gibt es in allen Teilen der Gesellschaft und in allen Ländern, egal welche politischen Repressionen dort herrschen.

Digitaler Hass

Der gesellschaftliche Backlash geht einher mit einer massiven Zunahme an Hass im digitalen Raum. Personen mit Diskriminierungserfahrungen trifft es besonders häufig. In einer aktuellen Studie gaben 28 Prozent der Befragten mit homosexueller Orientierung an, bereits Hass im Netz ausgesetzt gewesen zu sein. Bei jenen mit bisexueller Orientierung waren es sogar 36 Prozent. Dieser Hass führt zum Rückzug aus demokratischen Diskursen: Von den Befragten bekennt sich mehr als die Hälfte aus Angst im Netz seltener zur eigenen politischen Meinung. Und 82 Prozent fürchten, dass Hass im Netz die Vielfalt im Internet gefährdet (Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz 2023).

Breitet sich Hass im digitalen Raum ungehindert aus, befördert das auch die Gewalt auf der Straße: Aus Worten werden Taten. Die offiziellen Zahlen queerfeindlicher Hasskriminalität in Deutschland steigen seit Jahren an. Das Bundesinnenministerium erfasste 2022 mehr als 1000 Fälle von Hasskriminalität in Bezug auf sexuelle Orientierung und mehr als 400 Fälle im Hinblick auf geschlechtsbezogene Diversität. Vor allem im öffentlichen Raum, auf der Straße oder im öffentlichen Nahverkehr erfahren queere Menschen Gewalt in Form von Beleidigungen, Spucken, Schlägen oder Tritten. Hinzu kommt eine erhebliche Dunkelziffer, Schätzungen gehen von 80 bis 90 Prozent aus.

Viele queere Menschen erstatten keine Anzeige, weil sie weitere Diskriminierung durch die Polizei fürchten oder dieser in der Vergangenheit bereits ausgesetzt waren. Auch andere Gründe wie Scham oder ein ungesicherter Aufenthaltsstatus können eine Rolle spielen. In Deutschland bestehen noch große Forschungslücken über Ausmaß, Erscheinungsformen und Hintergründe LSBTIQ*-feindlicher Hasskriminalität.

Menschenfeindliche Einstellungen

Die Gewalt richtet sich nicht nur gegen queere Menschen selbst, sondern auch gegen Menschen, die von den Täter*innen als LSBTIQ* wahrgenommen werden. Oft handelt es sich scheinbar um spontane Taten – das bedeutet im Umkehrschluss, dass Queerfeindlichkeit noch tief in der Gesellschaft verankert ist. Aus LSBTIQ*-feindlicher Gewalt spricht Hass. Die Täter*innen sehen sich oft als Vollstrecker eines von ihnen fantasierten Volkswillens. LSBTIQ* gelten ihnen als minderwertige Menschen. Sie wollen queeres Leben aus dem öffentlichen Raum in die Unsichtbarkeit treiben. Darüber hinaus ist Queerfeindlichkeit meistens verwoben mit weiteren menschenfeindlichen Einstellungen.

Spürbare Queerfeindlichkeit führt zu einer Gesellschaft, in der sich Menschen davor hüten, „anders“ zu sein oder so auszusehen. Laut LSBTI-Umfrage der EU-Grundrechteagentur vermeiden 61 Prozent der Befragten oft oder immer, mit ihren Partner*innen in der Öffentlichkeit Hand in Hand zu gehen (Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2020).

Queere Jugendliche besonders betroffen

Insbesondere queere Jugendliche befinden sich in einer vulnerablen Situation. Sie bestreiten ihr Aufwachsen und ihren Selbstfindungsprozess in einer Gesellschaft, die immer noch von einer durch Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit geprägten Norm ausgeht. Das führt dazu, dass in der Regel mehrere Jahre vergehen zwischen dem inneren Coming-out, also dem Eingeständnis von Queerness sich selbst gegenüber, und dem äußeren Coming-out, also dem Outing gegenüber dem Umfeld.

Die Unsicherheit über das zunächst als nicht passend wahrgenommene sexuelle oder geschlechtliche Erleben führt bei queeren Jugendlichen vielfach zu Belastungen, Entbehrungen und Ängsten – etwa davor, nie eine glückliche Beziehung oder eigene Familie haben zu können. Es ist davon auszugehen, dass sie auch häufiger von familiärer Gewalt betroffen sind. Viele sehen sich unter Druck, sich verstecken zu müssen, oder verdrängen ihre Identität. Das kann psychische oder psychosomatische Folgen haben. Ein unterstützendes Umfeld ist deshalb wichtig (Deutsches Jugendinstitut 2015).

Schutz vor Konversionsmaßnahmen

Diesen psychischen Druck können Konversionsmaßnahmen verstärken, obwohl sie in Deutschland – mit Ausnahmen – verboten sind. Solche Behandlungen werden in der falschen Annahme durchgeführt, die geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung einer Person könne von außen verändert oder unterdrückt werden. Dies widerspricht wissenschaftlichen Erkenntnissen und WHO-Richtlinien.

Eine aktuelle bundesweite Online­befragung ergab alarmierende Zahlen. Zur Unterdrückung oder Änderung ihrer sexuellen Orientierung wurde demnach 52 Prozent der befragten queeren Menschen mehrmals nahegelegt, eine gegengeschlechtliche Person zu daten. 50 Prozent erhielten mehrfach oder immer wieder die Empfehlung, sich an „typisch männlichen“ Aktivitäten wie Fußball zu beteiligen oder an „typisch weiblichen“ wie Shopping. Der Schutz vor Konversionsbehandlungen bleibt also eine zentrale Aufgabe, und es besteht weiterhin großer Aufklärungsbedarf.

Für uns als Zivilgesellschaft ist es entscheidend, uns nicht zu sehr auf den erstrittenen Erfolgen auszuruhen. Es gilt, alle Demokrat*innen dazu zu aktivieren, die Menschenrechte von queeren Personen zu verteidigen. Das bedeutet insbesondere, bei Wahlen demokratische Parteien zu unterstützen.

Gleichberechtigung für sogenannte Minderheiten – auch für queere Menschen – zählt zum Kern einer Demokratie. Davon profitieren letztlich alle. Um es mit der Publizistin Carolin Emcke zu sagen: „Pluralität in einer Gesellschaft bedeutet nicht den Verlust der individuellen (oder kollektiven) Freiheit, sondern garantiert sie erst.“

Links

Kompetenznetzwerk gegen Hass im Netz, 2023: Lauter Hass – leiser Rückzug. Wie Hass im Netz den demokratischen Diskurs bedroht.
https://kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de/wp-content/uploads/2024/02/Kurzinformation-Studie_Lauter-Hass-leiser-Rueckzug.pdf

Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, 2020: EU-LGBTI II. A long way to go for LGBTI equality.
https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2020-lgbti-equality-1_en.pdf

Mosaik Deutschland e. V., Amt für Chancengleichheit der Stadt Heidelberg, 2023: Unheilbar queer? – Erfahrungen mit queerfeindlichen Haltungen in Deutschland. 
https://www.liebesleben.de/fachkraefte/studien-standard-qualitaetssicherung/queer-in-deutschland-wissen-und-erfahrungen-zu-konversionsbehandlungen/

Deutsches Jugendinstitut, 2015: Coming-out – und dann…?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. 
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/90014/054ed380a72ca0eed511ea21753e1a61/dji-broschuere-coming-out-data.pdf

Kerstin Thost ist Pressesprecher*in des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD).
presse@lsvd.de