Rassismuserfahrung

„Ich definiere mich nicht als Opfer“

Unsere Autorin kam als Kind aus der Türkei nach Deutschland. In ihrem Essay beschreibt sie, wie sehr sie vom Rassismus in ihrem Herkunftsland verstört ist, in das sie nach acht Jahren wieder reiste. Sie erinnert sich an den Weggang aus der Heimat und die Ankunft in der Fremde und beschreibt ihre sehr persönliche Sicht über Identität, Rassismus und Ausgrenzung.
Canan Topçu 1972 in der Türkei, kurz vor ihrer Migration nach Deutschland. Sie ist mit ihrer Klassenlehrerin in Gemlik, südlich von Istanbul, auf dem Schulgelände zu sehen. Canan Topçu 1972 in der Türkei, kurz vor ihrer Migration nach Deutschland. Sie ist mit ihrer Klassenlehrerin in Gemlik, südlich von Istanbul, auf dem Schulgelände zu sehen.

Eigentlich ist es eine private Reise in die Türkei; die „professionelle Deformation“ lässt es aber nicht zu, abzuschalten und einfach mal nur Urlaub zu machen. Stattdessen nutze ich jede Gelegenheit, um mich mit Einheimischen auszutauschen. Mit wem ich auch spreche: Alle klagen – vor allem über die täglich steigenden Lebenshaltungskosten. Und früher oder später schimpfen fast alle auf syrische Flüchtlinge.

Sie bekämen jede Menge finanzielle Unterstützung vom türkischen Staat, während die bedürftigen Landsleute leer ausgingen. Sehr viele Menschen in der Türkei glauben ernsthaft, dass es sich die syrischen Flüchtlinge im Land so richtig gut gehen lassen. Was ich in fast jeder Unterhaltung zu hören bekomme: dass sie sich „wie die Karnickel vermehren“. Die hohe Geburtsrate – angeblich sechs Kinder pro Familie – gehöre zur Strategie, und wenn es so weitergehe, dann würden die Syrer in 20 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei bilden.

Ungehemmte Feindseligkeit

Die Verschwörungserzählung von der Umvolkung gibt es also auch in der Türkei, und sie wird weitgehend unhinterfragt weitergegeben. Einer meiner Gesprächspartner schickte mir, um seine Aussagen zu untermauern, ein Video, in dem eine namhafte türkische Journalistin „Fakten“ zu Flüchtlingen vorträgt. Egal, ob es akademisch gebildete Menschen sind oder Tagelöhner ohne Schulabschluss: Aus ihren Mündern sprudelt ungefilterter Rassismus. Diese ungehemmt und unhinterfragt artikulierte Feindseligkeit in der Türkei macht mich fassungslos.

Gespräche darüber zu führen, warum die syrischen Flüchtlinge für all die Miseren im Land verantwortlich gemacht werden, ist sinnlos, denn all die Menschen, mit denen ich hier im Austausch war, scheinen die syrischen Flüchtlinge als Sündenbock zu brauchen. Auf diese Weise kommen sie darum herum, sich den wahren Ursachen der ökonomischen Krise in der Türkei zu stellen: der Vetternwirtschaft und des zerbröckelten Rechtsstaats.

Ganz ehrlich: Ich bin sehr froh darüber, nicht in der Türkei zu leben. Und ich bin meiner Mutter dankbar, dass sie als junge Frau und dreifache Mutter den Mut aufbrachte, nach Deutschland zu kommen. Angeworben von einer Schokoladenfabrik, machte sie sich 1972 auf den Weg in ein Land, über das sie kaum etwas wusste. Sie wurde nicht vorbereitet auf das Leben und Arbeiten in Almanya. Und ich wiederum nicht auf ihren Weggang.

Ich war sieben Jahre alt, meine Schwestern waren neun und zwölf, als mein Vater die Mutter nach Istanbul zum Flughafen begleitet hat. Vater folgte der Mutter ein paar Monate später, meine mittlere Schwester und ich kamen zu den Großeltern ins Dorf, meine älteste Schwester ins Internat. Ein Jahr später holten die Eltern uns nach.

Auch nach 50 Jahren kommen mir die Tränen, wenn ich über die Zeit spreche, in der meine Eltern nach Deutschland gingen und uns zurückließen. Migration ist ein Trauma, das mich ein Leben lang begleitet. Und trotzdem: Ich lebe sehr gerne in Deutschland. Denn hier konnte ich die werden, die ich geworden bin.

Ich hatte Chancen, konnte den Beruf ergreifen, den ich wollte, und Vorlieben und Talente entdecken. Das alles wäre in der Türkei so nicht möglich gewesen, auch aufgrund der finanziellen Situation meiner Eltern. Auf meinem Weg haben mich viele Menschen unterstützt – auch deshalb fühle ich mich Deutschland zugehörig. Und dieses Gefühl ist nichts, was mir gewährt werden muss oder aberkannt werden kann. Ich habe es mir selbst angeeignet.

Vieles in der aktuellen Rassismusdebatte kann ich nicht nachvollziehen. Nein, ich empfinde es nicht als Ausgrenzung, wenn ich gefragt werde, woher ich komme. Wenn ein Kollege, mit dem ich schon öfter telefoniert habe, nicht sofort weiß, wer ich bin, führe ich das nicht auf meinen türkischen Namen zurück. Als ich vor etwa 30 Jahren nicht sofort ein Volontariat bekommen habe, vermutete ich nicht Rassismus als Grund und versuchte es woanders noch einmal. Schließlich klappte es – unter anderem deshalb, weil mich einige der jetzt so oft geschmähten „alten weißen Männer“ unterstützten.

Mehr differenzieren

Damit kein Missverständnis entsteht: In Deutschland gibt es Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten. Menschen werden aufgrund ihres Aussehens, ihrer Religion oder anderer Merkmale ausgegrenzt. Leider erleben sie auch Gewalt, und manchmal endet sie tödlich. Ich wohne in Hanau unweit der Orte, an denen ein Rechtsextremist am 19. Februar 2020 neun Menschen aus Hass auf Nicht-Deutsche ermordete. Ich habe die Folgen des Attentats direkt miterlebt.

Doch es wird zu wenig differenziert, und schneller, als ich es für sinnvoll halte, werden rassistische Motive unterstellt. Für mich ist es ein Unterschied, ob ein dunkelhäutiger Mensch bespuckt und getreten wird oder ob eine Person gefragt wird, ob sie Urlaub in der „Heimat“ gemacht hat, weil man von ihrem Äußeren darauf schließt, dass sie nicht aus Deutschland stammt.

Ich weiß, wie tief es einen verletzt, wenn man ausgegrenzt wird und sich ohnmächtig fühlt. Ich kann mich gut daran erinnern, wie es war, als ich in der Grundschule nicht genug Deutsch konnte, um den Lehrern verständlich zu machen, dass ich neugierig war und in der Tasche eines Mitschülers nur etwas nachschauen und nichts stehlen wollte, wie mir unterstellt wurde. Ich weiß noch, wie es war, von einem Klassenkameraden im Unterricht als „Kümmeltürkin“ beschimpft zu werden – und der Lehrer nicht eingriff. Ich erinnere mich aber auch daran, wie ich aufstand, dem Jungen eine knallte und mich wieder hinsetzte.

Individuelle Lebenswege

Ich habe mir Diskriminierung nicht gefallen lassen. Mich zu wehren, hat mir meine Mutter beigebracht. Ich hatte es oft nicht leicht, umso mehr freue ich mich über das, was ich erreicht habe. Seit mehr als 25 Jahren engagiere ich mich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Auch deshalb kommt es mir nicht in den Sinn, mich als Opfer zu definieren. Dadurch würde ich mich ja selbst kleinmachen oder mich auf meine Verletzbarkeit reduzieren. Doch genau das tun einige aus den postmigrantischen Gruppen, die die Rassismusdebatte bestimmen. Folgt man ihren Schilderungen, ist Deutschland durch und durch rassistisch und auf strukturellem Rassismus aufgebaut. Die „Weißen“ sind nach ihrer Logik die Täter und die „Schwarzen“ – mal als Hautfarbe, mal politisch verwendet als Synonym für Minderheiten – die Opfer.

Die Welt in Schwarz und Weiß aufzuteilen entspricht nicht meinem Menschenbild. Niemand ist nur Täter oder nur Opfer, Menschen aus Minderheitengruppen sind nicht per se benachteiligt oder die besseren Menschen. Auch sind nicht alle „Weißen“ privilegiert. Wer das behauptet, blendet die individuellen Lebenswege komplett aus und ignoriert, dass – um in der Antirassismus-Terminologie zu bleiben – auch „weiße“ Menschen sich sozial, kulturell und wirtschaftlich abgehängt fühlen und es tatsächlich auch sind. Herzenswärme und Gewissen haben nichts mit Status zu tun und erst recht nichts mit Hautfarbe. Diese Eigenschaften den vermeintlich Privilegierten abzusprechen schadet dem gemeinsamen Engagement für eine gerechtere Gesellschaft.

Und darum muss es uns allen doch gehen: dass jede und jeder hier frei leben kann, nicht beurteilt wird nach dem Namen, nach der Hautfarbe und Herkunft; dass alle die gleichen Chancen bekommen und gerecht behandelt werden. Davon sind wir leider noch entfernt. Aber gewinnt man Verbündete, indem man Menschen vor den Kopf stößt? Ich beobachte im privaten und beruflichen Umfeld, dass Anschuldigungen und generelle Rassismusvorwürfe bei den einen zu Schuldgefühlen und Mitleid führen, bei anderen zu Abwehr und Weghören. Auch deshalb bin ich für das Abwägen von Für und Wider und für Besonnenheit im Umgang miteinander. Versäumnisse gilt es mit Bedacht nachzuholen. Dass jetzt auf jedem Werbeplakat und in jeder Firmenbroschüre dunkelhäutige Personen oder Frauen mit Kopftuch abgebildet werden, ist mir zu plakativ und zu platt.

Leben in einer diversen Gesellschaft

Statt von einem Extrem ins andere zu verfallen, sollten wir das Verbindende suchen. Das gemeinsame Erleben von kulturellen Ereignissen schafft – so eine Erkenntnis der Neurowissenschaft – Zugehörigkeit und zwischenmenschliche Verbundenheit.

Das Identitätsmerkmal „rassistische Erfahrung“ reicht meiner Meinung nach als sozialer Kitt nur bedingt. Wie aber können wir erreichen, dass junge Leute ihre Identität nicht über ihre Diskriminierungserfahrungen definieren? Die Schulen können das Zugehörigkeitsgefühl stärken. Dafür brauchen wir mehr und besser ausgebildete Lehrkräfte und Sozialarbeiter und mehr Zeit, um mit den Jugendlichen zu diskutieren und mit ihnen gemeinsam kulturelle Ereignisse zu gestalten und zu erleben. Schulen sollten nicht nur Wissen vermitteln, sondern mehr als bisher soziale Kompetenzen trainieren, Wege aufzeigen, wie man Konflikte löst und gewaltfrei kommuniziert. Das Leben in einer diverseren Gesellschaft gilt es zu lernen und einzuüben.


Canan Topçu ist freie Journalistin, Dozentin und Autorin. Sie hat das Buch „Nicht mein Antirassismus: Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten. Eine Ermutigung.“ Quadriga 2021, veröffentlicht.
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