Interview
„Soziales Kapital darf nicht vernachlässigt werden“
Ihr neues Buch „Periphery and small ones matter" handelt davon, wie die Ungleichheit in Indonesien zu überwinden ist. Was ist falsch an herkömmlicher Entwicklungsökonomie?
Wenn Weltbank, Internationaler Währungsfonds und andere sich mit Ungleichheit befassen, schauen sie insbesondere auf Einkommensungleichheit – aber sie beachten zu wenig die Gründe dafür. Damit übersehen sie zwei wichtige Arten von Ungleichheit: Erstens variieren Durchschnittseinkommen in verschiedenen Regionen enorm. Und zweitens unterscheiden sich die Einkommen in großen und kleinen Unternehmen wesentlich voneinander. Teils verstärken sich diese beiden Phänomene gegenseitig, denn große Unternehmen sitzen tendenziell in wohlhabenderen oder ressourcenreichen Regionen. Das bedeutet, die Ungleichheit wird weiter zunehmen, wenn die Politik nicht eingreift. Tatsächlich ist dieser Dualismus in Indonesien immer noch tief verwurzelt.
In der Entwicklungssoziologie bedeutet Dualismus, dass in einer Gesellschaft zwei unterschiedliche Normen nebeneinander bestehen: zum einen das formal kodifizierte Recht, zum anderen kulturell und religiös geprägte Traditionen. Typischerweise tendieren ärmere und weniger gebildete Menschen zu Lletzterem, weil sie von gesetzlichen Normen oft nur vage Vorstellungen haben. Die Eliten hingegen können mit beiden Normen etwas anfangen. Nutzen Sie den Begriff Dualismus in diesem Sinne?
Ja. Genau das meinte Julius Herman Boeke, als er den Begriff prägte. Er war ein holländischer Gelehrter, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Indonesien bei der Kolonialregierung angestellt war. Seine Idee von Dualismus half zu erklären, weshalb viele Politikansätze und Programme, die die Kolonialmacht einführen wollte, nicht funktionierten. Die Niederländer versuchten, vermeintlich moderne Werte zu etablieren, die offensichtlich ihren imperialistischen Interessen dienten – und die kolonialisierten Menschen hielten an ihren traditionellen Normen fest. Indonesien wurde 1949 unabhängig, aber der Einfluss dieses sozialen Dualismus ist noch immer spürbar. Die erwähnte Ungleichheit zwischen den Regionen sowie zwischen den verschiedenen Arten von Unternehmen geht auf die Kolonialzeit zurück. Heutzutage sind 95 Prozent der Unternehmen klein. Dennoch erzeugen die wenigen großen Unternehmen die größte Wertschöpfung.
Sind kleine Unternehmen gleichzusetzen mit informellen Unternehmen?
Das nicht, aber es gibt große Überschneidungen. Die meisten informellen Unternehmen sind klein, mit wenigen Ausnahmen. Umgekehrt existieren auch formelle Unternehmen mit nur wenigen Mitarbeitenden, etwa kleine Kanzleien oder IT-Start-ups.
Was können Politiker tun, um die wachsende Ungleichheit zu stoppen?
Sie sollten Verschiedenes berücksichtigen. Zum einen wäre da die Ökonomie der Agglomeration. Unternehmen profitieren davon, in der Nähe anderer Unternehmen ansässig zu sein. Auch soziales Kapital und Kultur spielen eine große Rolle, vor allem für kleine und informelle Unternehmen.
Lassen Sie uns zunächst die Agglomeration betrachten. Sie ist ein wichtiger Grund dafür, dass sich in reichen Ländern spezielle Industrien auf bestimmte Städte konzentrieren. In Deutschland etwa ist Frankfurt das Finanzzentrum und Stuttgart ein wichtiger Automobil-Standort. Solche Cluster steigern die Produktivität einzelner Unternehmen, weil räumliche Nähe das Netzwerken erleichtert, der Pool an qualifizierten Arbeitskräften größer ist und die lokale Infrastruktur ihre Bedürfnisse erfüllt. Ist es das, woran Sie denken?
Im Grunde ja, aber auf eine noch grundlegendere Weise. Stellen Sie sich zehn kleine Unternehmen vor, die auf sich selbst gestellt sind, und vergleichen Sie diese mit zehn Unternehmen, die sich zusammengetan haben – die zweite Gruppe wird produktiver sein. Sie werden Informationen austauschen, gemeinsame Beschaffungen vornehmen und die Infrastruktur verbessern, von der sie abhängen.
Das klingt wie das Otigba Computer Village in Lagos, Nigeria (siehe Johannes Paha und Lydia Wolter auf www.dandc.eu). Das ist ein Cluster von informellen Unternehmen, die sich auf IT-Hardware und Software spezialisieren. Einer der großen Vorteile ist, dass geschultes Personal schnell den Arbeitgeber wechseln kann, und dass Hardware- und Software-Unternehmen im Kundenservice kooperieren können.
Ich kenne dieses Beispiel nicht, aber ja, die Kraft der Agglomeration wirkt immer, und informelle Unternehmen können sehr davon profitieren. Ist der Markt sich selbst überlassen, erzeugen seine Dynamiken jedoch mehr Ungleichheit. Großunternehmen können sich auf bestimmte Cluster konzentrieren und die damit verbundenen Vorteile genießen, während viele Kleinunternehmen isoliert arbeiten. Das verstärkt die Ungleichheit – sowohl zwischen den Regionen als auch zwischen kleinen und großen Unternehmen. Daher sollten Regierungen ihr Bestes tun, um die positiven Auswirkungen der Agglomeration für kleine Unternehmen zu fördern und zugleich die schädlichen Folgen der regionalen Ungleichheiten abzufedern.
Konkret sollten Regierungen also für gute physische und soziale Infrastruktur sorgen?
Nun, unsere Forschung zeigt, dass gute soziale Infrastruktur tatsächlich deutlich wichtiger ist. Kleinunternehmen fehlt es insbesondere an Netzwerken, Wissen und Information. Machen wir ein kleines Gedankenexperiment: Firma A ist groß und urban; Firma B klein und ländlich. Ansonsten bewegen sich beide im gleichen Umfeld. Hat Firma A ein Problem, sucht ihr Management nach einer Lösung. Es könnte einen Berater anheuern, die Regierung beeinflussen oder es mit Bestechung versuchen. Firma B dagegen bleibt sich selbst überlassen und wird weiter mit dem Problem zu kämpfen haben. Soziales Kapital ist wirklich entscheidend. Es speist sich sowohl aus fachlicher Kompetenz als auch aus persönlichen Kontakten. So oder so ist Bildung der zentrale Faktor.
Aber ist harte Infrastruktur im Sinne von Straßen, Stromversorgung und Ähnlichem nicht genauso wichtig?
Sie ist wichtig, wird aber oft überschätzt. Soziale Infrastruktur dagegen wird oft vernachlässigt. Regierungen in aller Welt haben immer wieder versucht, regionale Ungleichheiten zu reduzieren, indem sie die Infrastruktur in benachteiligten Gegenden ausbauen. Es hat sich aber gezeigt, dass die Unterschiede so nicht überwunden werden. Das auffälligste Beispiel ist wohl Italien, wo der Süden dank starker Investitionen in Infrastruktur mit dem Norden aufholen sollte, tatsächlich aber immer weiter zurückfiel. Ähnliches gilt für Deutschland, wo die östlichen Bundesländer seit der Wiedervereinigung noch nicht zu den westlichen aufgeschlossen haben.
Wie erklären Sie sich die wachsende Ungleichheit?
Zusätzliche harte Infrastruktur hilft einer betroffenen Region bis zu einem gewissen Maße. Aber sobald sie prosperiert, bezieht sie immer mehr Waren und Dienstleistungen aus weiter entwickelten Regionen, sodass diese letztlich noch mehr profitieren. Die Unterschiede werden größer. Den Menschen in benachteiligten Regionen fehlt es immer noch an Fachwissen und Netzwerken, um kleine Unternehmen produktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. Soziales Kapital, das ist die Lehre, darf nicht vernachlässigt werden. Die Erfahrung zeigt zudem, dass bessere Bildung und Gesundheitsversorgung die Produktivität eines ganzen Landes steigern, ohne regionale Ungleichheiten zu vertiefen.
Und wie sieht es mit Finanzdienstleistungen aus (siehe Oliver Schmidt auf www.dandc.eu?
Wir haben Kleinunternehmen in Indonesien befragt. Unter anderem wollten wir wissen, ob sie Zugang zu Bankkrediten hätten. Es zeigte sich, dass viele der sehr kleinen Unternehmen keine Kredite wollten: Sie hatten Angst, das Geld nicht mehr zurückzahlen zu können. Ein solches kulturelles Hindernis bleibt auch dort bestehen, wo es eine Bankfiliale gibt. Diese Geschäftsleute liehen sich eher Geld von Verwandten und Bekannten vor Ort. Das zeigt: Kulturelle Normen spielen eine große Rolle. Bildung und Informationsangebote können hier zur Veränderung beitragen.
Spielen digitale Technologien eine Rolle?
Das Internet kann schon helfen, regionale Klüfte zu überbrücken. Ein guter Internetzugang kann ein großer Gleichmacher sein.
Zugang zum Internet hängt aber von harter Infrastruktur ab, nicht von Bildung.
Wenn kleine Unternehmen von älteren Menschen geführt werden, die über wenig Online-Kenntnisse und Bildung verfügen, tun sie sich schwer, das Internet zu nutzen. Internetkompetenz ist deshalb oft wichtiger als die Qualität des Zugangs. Erstere breitet sich gerade dort schnell aus, wo es viele Unternehmen gibt und einige Menschen über ein Grundverständnis verfügen. Gut informierte Geschäftsleute werden deshalb das Internet auch dort zu nutzen wissen, wo die Internetverbindung schlecht ist.
Literatur
Azis, I. J., 2022: Periphery and small ones matter – Interplay of policy and social capital. SpringerLink (Open Access).
https://link.springer.com/book/10.1007/978-981-16-6831-9
Iwan J. Azis ist Professor für Emerging Markets an der Dyson School of Applied Economics and Management an der Cornell University in Ithaca, New York, und Visiting Professor an der University of Indonesia in Jakarta.
http://iwanazis.com/