Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Internationale Finanzinstitutionen

Sorge um die Schwächsten

„De-risking“ ist ein neues Schlagwort in der Entwicklungsfinanzierung und bedeutet, dass man die Risiken in Projekten oder Programmen reduzieren will. Der bekannte Entwicklungssoziologe Michael Cernea stellt die Frage, um wessen Risiken es dabei geht. Nicht nur Investoren sollten geschützt werden, meint er, sondern auch diejenigen, die vertrieben werden und zu verarmen drohen. Ist das neue Umwelt- und Sozialrahmenwerk der Weltbank im kommenden Jahr erst einmal in Kraft, wird man sich um sie wohl noch weniger kümmern als bisher.
Indigene protestieren 2013 gegen Belo Monte in Brasilia. Ed Ferreira/picture-alliance/Estado conteudo Indigene protestieren 2013 gegen Belo Monte in Brasilia.

Cernea kennt die Risiken, die mit Entwicklungshilfe einhergehen. 1974 wurde er als erster Soziologe bei der Weltbank angestellt. Von da an führte er ein Vierteljahrhundert lang intellektuelle Kämpfe innerhalb und oft auch außerhalb der Institution. Er fordert, dass die offizielle Entwicklungshilfe auch sozialwissenschaftliche Kenntnisse berücksichtigen soll, nicht nur ökonomische. Sein bahnbrechendes Buch „Putting people first“ (1985/1991) wurde als Klassiker über partizipative Entwicklung in etliche Sprachen übersetzt.

Cernea ist inzwischen von der Weltbank pensioniert worden, aber er ist weiterhin ein produktiver Autor. Ihm sind einige wegweisende Erfolge bei der Weltbank zu verdanken; am bekanntesten sind seine Arbeiten über Zwangsumsiedlungen. 1980 verabschiedete die Weltbank diesbezüglich eine von ihm erarbeitete Politikrichtlinie.  Diese läutete eine neue Ära ein, denn andere multilaterale und bilaterale Agenturen übernahmen bald ähnliche Standards.

Der neue Ansatz betonte, dass entwicklungsbedingte Vertreibung Millionen von Menschen betrifft und vermieden werden sollte. Sollte das nicht möglich sein, müsse man die negativen Auswirkungen gering halten: Es kann nicht sein, dass die Ärmsten die Kosten für Entwicklung tragen. Die Weltbank solle Verantwortung dafür übernehmen und dürfe sie nicht den örtlichen, unterfinanzierten Behörden überlassen.

Der neue Ansatz stellte klar: Wenn ein Projekt zu Vertreibungen führt und Umsiedlungen nötig werden, sind die damit verbundenen Kosten integraler Bestandteil des Projekts. Es ging darum, dass Geldgeber und Regierungen Menschen nicht wie Wegwerfware behandeln können und Menschen Rechte, Besitzansprüche und Ziele haben.


Das IRR-Modell

Das IRR ist ein Planungsinstrument, das Cernea entwickelt und populär gemacht hat. IRR steht für „Impoverishment risks and reconstruction model for resettling displaced populations“ – „Verarmungsrisiken und Rekonstruktionsmodell für die Umsiedlung Vertriebener“. Er stellte es erstmals in China auf einer Konferenz über Wasserkraft vor.

Das Modell identifiziert acht grundlegende Risiken, die im Kontext von Zwangsumsiedlungen regelmäßig auftreten:

  • Landlosigkeit,
  • Arbeitslosigkeit,
  • Obdachlosigkeit,
  • Marginalisierung,
  • Nahrungsmittelunsicherheit,
  • Verlust von Zugang zu Ressourcen öffentlichen Eigentums,
  • Verlust der Gesundheit und
  • Auflösung gemeinschaftlicher Strukturen.

Diese Risiken müssen eingedämmt werden. Leider ist das nicht das, was Internationale Finanzinstitutionen (IFI) unter „De-risking“ verstehen. Vielmehr steht „De-risking“ für eine einseitige Strategie, um an das private Kapital risikoscheuer Investoren zu kommen. Eine Option dabei ist, Versicherungen anzubieten, die das Risiko abdecken. Ein anderer Ansatz wäre, sicherzustellen, dass Privatanleger durch gezielte Regulierungen in Entwicklungsländern mit attraktiven Renditen rechnen können.

IFI, darunter die Weltbank und ihre regionalen multilateralen Schwestern, bemühen sich um Privatgelder für große Infrastrukturprojekte. Wenn die privaten Kapitalströme nicht fließen, sind die von den G20 beabsichtigten Investitionsziele nicht erreichbar, die Billionen statt nur Milliarden Dollar für Infrastrukturprojekte anvisieren.

Die Topmanager der IFI sind angetan vom „De-risking“. Erschreckend ist allerdings, dass es ihnen dabei allein darum geht, das Risiko der Investoren zu senken. So zumindest stellte sich das in diesem Frühjahr bei den Treffen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds in Washington dar. Die Gefahren für die Einheimischen, durch große Infrastrukturprojekte entwurzelt, marginalisiert und in die Armut getrieben zu werden, wurden kaum berücksichtigt. Cerneas Lehren bleiben unbeachtet.

IFI müssen mehr tun, als sich auf dem Papier zu einer inklusiven und nachhaltigen Entwicklung zu verpflichten. Sie müssen die Risiken für die Betroffenen im Vorfeld betrachten und sie gemeinsam mit den betroffenen Gemeinden offen und transparent angehen. Die IFI haben Umwelt- und Sozialstandards verabschiedet, die sie dazu verpflichten.

Tatsächlich aber ist es leider so, dass diese Standards aus diversen Gründen nicht stringent umgesetzt werden – und die Tendenz  ist eine weitere Verschlimmerung. Oft interessieren sich Regierungen der Länder, in denen die Infrastruktur gebaut wird, kaum für die marginalisierten Gruppen. Sie wollen neue Straßen, Dämme, Minen, Kraftwerke und dergleichen.

Den IFI-Managern wiederum geht es darum, viele Projekte möglichst schnell umzusetzen, auch weil sie fürchten, verdrängt zu werden, etwa von privaten Anlegern  und neuen chinesisch geführten, multilateralen Banken wie der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) mit Sitz in Peking.


Kehrseiten des risikobasierten Ansatzes

Das neue Environmental and Social Framework (ESF) der Weltbank tritt 2018 in Kraft. Erfahrungsgemäß ahmen andere IFI das nach. Das neue Regelwerk verfolgt einen „risikobasierten Ansatz“, was bedeutet: Risiken brauchen nicht vor Beginn eines Projekts identifiziert zu werden und sollen dann während der Projektdurchführung angegangen werden. Zudem beruft sich das ESF zunehmend auf die Umwelt- und Sozialstandards von kreditnehmenden Regierungen und immer weniger auf multilaterale Standards.

Cerneas Erfahrung nach bedeutet ein „risikobasierter“ Ansatz, dass die Risiken von Vertreibungen zunehmen, wenn sie nicht von Anfang an eingedämmt werden. Seiner Meinung nach sollte die Weltbank nicht nach dem „Learning by doing“-Prinzip verfahren, denn dann müssten für diese Lektionen „andere die Kosten tragen“. Außerdem werde die Bank das Gelernte schnell wieder vergessen. „Beim nächsten Projekt wird es wieder so sein“, warnt Cernea.

Er betont, dass für Infrastrukturprojekte Land benötigt wird – und dass dafür in den vergangenen Jahrzehnten Millionen Menschen entwurzelt wurden. Cernea sieht es als zunehmende Schizophrenie in der Entwicklungsfinanzierung, dass man Projekten „Vorfahrt“ gibt, während man sich mit Vertreibung und Verarmung nicht angemessen auseinandersetzt.


Korinna Horta ist Beraterin bei Urgewald, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Deutschland.
korinna.horta@gmail.com


Literatur

Cernea, M., 1991: Putting people first: sociological variables in rural development. 2nd edition, Oxford: University Press.

Cernea, M., 2004: Impoverishment risks, risk management and reconstruction: a model of population displacement and resettlement. Washington: World Bank.
https://commdev.org/wp-content/uploads/2015/06/Impoverishment-Risks-Risk-Management-and-Reconstruction.pdf