Migrationsroute Mittelmeer

Das Leid auf Lesbos lindern

Auf der griechischen Insel leben weiterhin tausende Geflüchtete unter widrigen Bedingungen. Mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen wie Europe Cares unterstützen sie dort.
Blick vom Gemeinschaftszentrum Paréa Lesvos über Camp Mavrovouni in die Türkei. Europe Cares Blick vom Gemeinschaftszentrum Paréa Lesvos über Camp Mavrovouni in die Türkei.

Wie es derzeit an Europas Grenzen im Mittelmeer zugeht, zeigt ein verwackeltes Handyvideo, veröffentlicht von der Nichtregierungsorganisation Aegean Boat Report: Menschen sitzen in einem Schlauchboot auf dem Wasser, die griechische Küste in Sichtweite. Ein Schiff unter griechischer Flagge nähert sich dem Boot, an der Reling vier Männer in dunkler Uniform und mit schwarzen Sturmmasken. Einer von ihnen schlägt mit einer langen Stange mit Haken nach dem Boot. Die Insassen schreien hysterisch. Dann bricht das Video ab.

Laut Aegean Boat Report (ABR) entstanden die Aufnahmen im November 2023 an der Nordküste der griechischen Insel Lesbos. Das Schlauchboot mit 23 Menschen an Bord, darunter Kinder, kam aus der nur wenige Kilometer entfernten Türkei und befand sich bereits tief in griechischen Gewässern, als die lokale Küstenwache auftauchte. Es folgte ein Pushback aus dem Lehrbuch: Zuerst zerstörte die Küstenwache den Motor mit dem Haken, dann brachte sie die hilflos treibenden Menschen zurück in türkische Gewässer und überließ sie ihrem Schicksal. Die Gruppe wurde gerettet, nachdem sie die internationale Notrufnummer 112 gewählt hatte.

Der Vorgang ist kein Einzelfall: Mehr als 900 Boote wurden 2023 auf diese oder ähnliche Weise illegal von der griechischen Küstenwache gestoppt, mehr als 25 800 Menschen zurück in die Türkei gebracht, wie Aegean Boat Report berichtet.

Menschenunwürdige Zustände

Wer es nach Lesbos schafft, den erwartet die menschenunwürdige Realität des Geflüchtetencamps Mavrovouni, des Nachfolgers des 2020 abgebrannten Moria. Etwa 4000 Menschen leben dort auf engstem Raum und rund um die Uhr bewacht. Das Gelände ist mit Nato-Stacheldraht umzäunt, der Eingang streng kontrolliert. Das Camp liegt direkt am Meer und ist Wind und Wetter ausgeliefert. Die Behausungen sind unbeheizt, obwohl es in Griechenland im Winter Temperaturen um null Grad hat. Es mangelt an Sanitäreinrichtungen.

„Das Camp ist entmenschlichend“, sagt Silvia Lucibello. „Die Menschen werden wie Kriminelle behandelt.“ Die Italienerin war einige Zeit für eine zivilgesellschaftliche Organisation (NGO) im Camp tätig. Heute arbeitet sie als Koordinatorin in Paréa Lesvos, einem der letzten verbliebenen Gemeinschaftszentren auf der Insel. Es liegt fußläufig zum Camp auf einer Anhöhe. Zehn NGOs bieten Bewohner*innen des Camps dort unter der Leitung der deutschen Organisation Europe Cares eine Alternative zu ihrem tristen Alltag.

Angebote und Beratung

In Paréa können die Besucher*innen etwas essen, Kleidung waschen lassen, Englisch lernen und psychologische oder rechtliche Beratung erhalten. Es gibt einen Rückzugsort für Frauen, einen kleinen Gemüsegarten, verschiedene Sportangebote und Workshops. Die Wände der Gebäude sind in bunten Farben gestrichen. Über den Platz des Gemeinschaftszentrums schallt Musik. Nirgendwo sonst auf der Insel findet sich ein vergleichbarer Ort.

„Paréa ist das totale Gegenteil vom Camp“, betont Lucibello. „Im Camp fühlen sich die Menschen nicht gesehen und nicht willkommen. Wir wollen ihnen zeigen, dass bei weitem nicht jeder sie als Kriminelle abstempelt. Wir klären sie über ihre Rechte auf und geben ihnen einen Ort, wo sie sie selbst sein können mit ihren Interessen und Talenten.“

Die Krise verschärft sich

Im Sommer kamen außergewöhnlich viele Geflüchtete auf Lesbos an. Auch die Besucherzahlen in Paréa schossen in die Höhe, auf bis zu 700 Menschen pro Tag. „Im September haben wir die höchste Zahl an Ankünften auf der Insel seit Langem verzeichnet, mehr als 3000 Menschen“, sagt Lucibello. Insgesamt waren es laut ABR 2023 gut 13 000 Geflüchtete, achtmal mehr als 2021.

Die Gründe dafür sind laut Lucibello vielfältig. Seit dem Ende der Covid-19-Pandemie hätten sich wieder mehr Möglichkeiten für Flüchtende eröffnet. Zudem habe es zwischenzeitlich deutlich weniger Pushbacks gegeben, weil die internationale Aufmerksamkeit auf der griechischen Küstenwache lag, nachdem die New York Times im Mai Videos eines Pushbacks veröffentlicht hatte. Doch das verwackelte Video vom November zeigt, dass diese Praxis wieder aufgenommen wurde. Die Ankunftszahlen sinken entsprechend.

Die Bilder und Zahlen erinnern an die Jahre 2015 und 2016. Damals stand Lesbos für das Chaos an Europas Grenzen. Das Camp Moria demonstrierte eindrücklich das Scheitern der europäischen Migrationspolitik. Zwar leben heute weniger Geflüchtete in Mavrovouni als damals in Moria. Doch die niedrigen Zahlen werden auf Kosten der Menschenrechte erreicht, die in der Europäischen Charta der Menschenrechte so feierlich versprochen werden. Illegale Pushbacks sind nur eins der Werkzeuge der griechischen und europäischen Abschreckungspolitik.

Der öffentliche Aufschrei bleibt allerdings aus: Die Insel ist fast vollständig vom Radar verschwunden. Die Aufmerksamkeit der Medien hat sich verlagert, und Lesbos gehört nun zu den vielen vergessenen Krisenorten dieser Welt.

Weniger Aufmerksamkeit, weniger Spenden

Für NGOs wie Europe Cares (EC) ist das ein Problem, denn in vielen Fällen folgen die Spendenströme der medialen Aufmerksamkeit. Bleiben die Spenden aus, gelangen die NGOs an ihre Grenzen. „Es ist ein ständiger Sprint, mittlerweile schon fast ein Marathon“, sagt Lennard Everwien, Co-Director von EC. „Wir hangeln uns von Monat zu Monat. Aber wir wollen diesen besonderen Ort der Gemeinschaft und der gelebten Solidarität unbedingt erhalten.“ Zwar ließe sich das Asylsystem nicht von jetzt auf gleich humanisieren. Aber es bestehe die Möglichkeit, den Alltag von Menschen auf der Flucht zu erleichtern.

In Paréa gibt es eine Pinnwand, an der Besucher*innen bunte Zettel mit Nachrichten hinterlassen. Auf einem steht: „Ihr seid wie Sterne, die den ganzen Tag für uns leuchten! Wenn wir hierherkommen, freuen wir uns sehr. Euer Lachen ist so einladend. Eines Tages werden wir gehen, aber wir nehmen die besten Erinnerungen mit!“

Das ist es, was auch Silvia Lucibello antreibt. „Wir können nicht rückgängig machen, was die Menschen in ihren Heimatländern und auf ihrer Flucht erlebt haben“, sagt sie. „Aber wir können ihnen einen Safe Space geben, auch wenn es nur ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde ist.“

Natascha Kittler arbeitet als Freiwillige im Bereich Kommunikation für Europe Cares.
natascha.kittler@europecares.org