Europäische Union
EU verstärkt Grenzschutz gegen Flüchtende
Der Weg von Nordafrika und der Türkei über das Mittelmeer hat sich nach einigen wenigen Jahren der Entspannung wieder zu einem Hotspot der Fluchtrouten entwickelt. 2022 kamen laut EU mehr als 90 000 Migranten und Migrantinnen über die zentrale Mittelmeerroute, über 50 Prozent mehr als noch im Jahr 2021.
Innerhalb der EU steigt wiederum die Skepsis gegenüber Migration. Die EU-Kommission hat im Januar 2023 eine Strategie vorgelegt, die darauf abzielt, deutlich mehr Migrantinnen und Migranten ohne Bleiberecht aus der EU zurückzuführen. In den vergangenen Jahren hatte die EU versucht, die Rückführungsquote zu erhöhen, indem sie die Menschen zur freiwilligen Rückkehr motivierte. Nun strebt sie offenbar eine engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und EU-Behörden an.
Dies betrifft vor allem Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Diese ist für die Überwachung der EU-Außengrenzen zuständig und arbeitet zu Wasser, zu Land und in der Luft. Seit ihrem Start 2005 hat sie die EU-Mitgliedstaaten unter anderem dabei unterstützt, die europäischen Grenzen zu sichern, Beziehungen zu Drittstaaten zu pflegen und die Rückführung von zur Rückkehr verpflichteten Personen zu vollziehen. Angesichts wachsender Migrationsströme gewinnen die von Frontex wahrgenommenen Aufgaben stetig an Bedeutung.
Stärkung von Frontex
Im Jahr 2019 weitete die EU das Mandat von Frontex erneut aus (Verordnung (EU) 2019/1896). Die Agentur erhielt unter anderem die Befugnis, Grenzübertrittskontrollen durchzuführen und Personen zu registrieren. Frontex soll zudem bis zum Jahr 2027 über eine 10 000 Personen starke „ständige Reserve“ verfügen, die sich aus Einsatzkräften sowohl von Frontex als auch von Mitgliedstaaten speist.
Bedeutend sind auch Veränderungen in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Fortan darf Frontex bestimmte Länder in deren gesamtem Hoheitsgebiet beim Grenzschutz unterstützen, und das nicht nur in Regionen, die an die EU angrenzen. Beispielsweise trat am 1. November 2022 eine entsprechende Vereinbarung mit der Republik Moldau in Kraft. Nordmazedonien folgte am 1. April 2023. Auch mit Mauretanien und dem Senegal strebt die EU Gespräche über entsprechende Vereinbarungen an.
Auswirkungen des Dublin-Systems
Aktuelle Probleme des europäischen Grenzschutzes sind im sogenannten Dublin-System begründet, benannt nach der „Dublin-III-Verordnung“, die in allen EU-Mitgliedstaaten sowie der Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island gilt. Dieses System soll sicherstellen, dass jeder Asylantrag innerhalb der EU nur einmal geprüft wird. Übertritt eine Person die Grenze eines Mitgliedstaates ohne die erforderlichen Einreisepapiere, ist dieser Staat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.
In Anrainerstaaten des Mittelmeers wie Italien, Griechenland, Spanien oder Malta kommen besonders viele Geflüchtete an. Diese Staaten sind gemäß dem Dublin-System dafür verantwortlich, die Ankommenden verwaltungstechnisch zu erfassen, was mit Aufwand und Kosten verbunden ist. Um dies zu verhindern oder zumindest den Aufwand zu verringern, bleiben den Ländern – rein nationalstaatlich betrachtet – zwei Möglichkeiten: Entweder sie hindern Flüchtende daran, das eigene Festland zu erreichen; das kann zu immer drastischeren Aktionen der Grenzschutzagenturen führen. Oder sie transportieren die Flüchtenden, sobald diese das Festland erreicht haben, möglichst rasch und ohne Asylverfahren in andere EU-Staaten beziehungsweise lassen sie dorthin weiterziehen. Hier spricht man von „Sekundärmigration“.
Zwar haben sich andere EU-Länder schon mehrfach bereit erklärt, den Anrainerstaaten des Mittelmeers freiwillig unter die Arme zu greifen, indem sie Geflüchtete aufnehmen oder sie finanziell unterstützen. Auf verbindliche Regeln zur Verteilung konnten sich die EU-Mitgliedsländer aber bislang nicht einigen. So schaffen Staaten, die besonders hart von illegaler Migration betroffen sind, vermehrt vollendete Tatsachen.
Verschärfte Regelungen
Italien beispielsweise erschwert die zivile Seenotrettung im Mittelmeer durch den Erlass völkerrechtlich bedenklicher Rechtsakte. Schiffe, die Menschen in Not gerettet haben, müssen sofort einen zugewiesenen Hafen ansteuern, ohne weiteren Booten in der Nähe Hilfe leisten zu dürfen. Die geretteten Personen sollen noch an Bord Asylanträge ausfüllen und mitteilen, in welchem EU-Land sie Asyl beantragen möchten. Bei Verstößen drohen den Verantwortlichen hohe Geldstrafen. Die Schiffe können unter Umständen konfisziert werden.
Zudem werden Schiffe mit geretteten Menschen teils wochen- oder monatelang festgesetzt, sofern sie es überhaupt an europäische Häfen geschafft haben. So gestrandete Flüchtende sind dadurch oft unkoordiniert der Verwahrlosung überlassen. Die inhumane Devise: Je weniger Menschen das eigene Festland betreten, desto weniger Verwaltungsaufwand wird generiert.
Die Bürgerinnen und Bürger der EU sind die Schreckensbilder von geflüchteten beziehungsweise gestrandeten Menschen bereits gewohnt. Populistische politische Strömungen bemühen das Narrativ vom angeblich beabsichtigten „ethnischen Austausch“, um Angst zu erzeugen. Sie möchten dadurch das Bild der „Blocco navale“, der Seeblockade vor Nordafrika, als angebliche Lösung aller Probleme in den Köpfen zementieren.
Frontex ist derzeit sowohl Teil der Lösung als auch des Problems. Eine Küstenwache kann nur zur Bekämpfung der Symptome, nicht aber der Fluchtursachen eingesetzt werden. Die erneute Aufstockung des Etats und des Equipments der Agentur sowie die erwähnte Ausweitung ihres Aufgabenbereichs lassen allerdings eher eine Verengung der Spielräume für einen humaneren Umgang mit Flucht und Migration befürchten.
Eine Lösung der humanitär angespannten Lage kann es nur geben, wenn die Anrainerstaaten des Mittelmeers eng eingebunden werden. Statt ausschließlich Kritik daran zu üben, wie diese Staaten mit Migrant*innen umgehen, sollten die weniger von Migration betroffenen Staaten sowie die EU aktiv Unterstützung leisten, zum Beispiel, indem sie den stärker belasteten Staaten bei der Bewältigung der finanziellen, aber auch der humanitären Mammutaufgabe beispringen.
Oliver Harry Gerson ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht an der Universität Passau.
oliver.gerson@uni-passau.de