Editorial

Über Dissens sprechen

Es fing vielversprechend an. Nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers im Zuge völlig überdrehter Finanz- und Immobilienspekulation stand die Weltwirtschaft am Rande des Abgrunds. Weil die Nachfrage weltweit wegzubrechen drohte und die Sanierung des Bankensektors international koordiniert werden musste, lud US-Präsident George W. Bush die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Volkswirtschaften nach Washington zu einem Gipfel nach dem Modell der gewohnten G8-Treffen ein. Von sofort an gehörten zur Gruppe der nunmehr 20 wichtigs­ten Ökonomien auch Indien, China, Brasilien, Mexiko und Indonesien, Länder, in denen Abermillionen Menschen existenzielle Armut leiden.

Die G20 wirkte anfangs geschlossen. Die Spitzenpolitiker einigten sich auf Konjunkturprogramme, Rettungsschirme für Banken und den Verzicht auf Protektionismus. Doch die Harmonie war nicht von Dauer. Heute herrscht über wichtige weltwirtschaftliche Fragen von Wechselkursen bis zu Handelsbilanzüberschüssen und -defiziten offener Dissens.

Es beunruhigt zudem, dass viele G20-Akteure kaum noch handlungsfähig scheinen. US-Präsident Barack Obama ringt mit einer erstarkten republikanischen Opposition, die sich gegen internationale Verantwortung sträubt. Sie leugnet den Klimawandel und schwadroniert von Haushaltssanierung, ohne Steuererhöhungen für Superreiche auch nur zu erwägen. Europa beschäftigt sich mit sich selbst. Der Euro, der die ökonomische Konvergenz in der EU beschleunigen sollte, hat in der Praxis die Divergenzen zwischen Export- und Importnationen verschärft. Als E+Z/D+C vor Weihnachten in Druck ging, prägten die Schuldenprobleme Irlands, Portugals, Spaniens und sogar Italiens die öffentliche Debatte. Indien rang derweil mit einem gewaltigen Korruptionsskandal. Chinas Herrscher treten international zwar selbstbewusst auf, haben aber pansiche Angst vor sozialen Unruhen, die ihre Macht gefährden könnten, sollte das rasante Wachstum ihrer Volkswirtschaft abbrechen.

Im Moment ist die G20 kein Entscheidungszentrum der Weltpolitik. Sie wirkt eher wie eine Bühne, die den Beteiligten dazu dient, der eigenen Bevölkerung ihre globale Bedeutung zu inszenieren. Seit die Angst vor einer weltweiten Wirtschaftsdepression vorbei ist, ist auch die Fähigkeit, gemeinsame Ziele und Programme zu definieren, geschwunden.

Welch ein Jammer. Koordination und Harmonisierung im G20-Kreis wären auf vielen Feldern nützlich. Zu den relevanten Stichworten gehören zum Bespiel Migration und Entwicklung, aber auch Steuern oder Rohstoffversorgung. In der G20 sind übrigens auch alle Hauptverursacher des Klimawandels versammelt. Sie könnten im Prinzip dieses gewaltige Menschheitsproblem in ihrem kleinen Kreis lösen. Es fehlt aber am politischen Willen.

Dennoch ist eine uneinige G20 gar keiner G20 allemal vorzuziehen. Es ist immer besser, über Dissens zu reden und ihn zur Not mit mit Formelkompromissen zu überdecken, als die Gesprächsbereitschaft aufzukündigen und Kontroversen brachial mit Protektionismus oder gar Waffengewalt auszutragen. Auf Dauer wird das aber nicht reichen. Es muss mehr geschehen.

Hans Dembowski