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Elendsviertel

Indiens Wirtschaftsmetropole ist ein Zentrum der Migration

Mumbai ist Indiens Wirtschaftszentrum, sieht aber von oben aus wie ein Netzwerk von Elendsvierteln. Die Menschenmassen, die in den Slums wohnen, schätzen den Chancenreichtum der Metropole.
Fiebermessung wegen Covid-19 in einem Mumbaier Slum. Ashish Vaishnav/picture-alliance/Zumapress Fiebermessung wegen Covid-19 in einem Mumbaier Slum.

Mumbai - früher Bombay – ist für viele Dinge bekannt: pulsierendes Nachtleben, quirlige Slums, erdrückende Staus, extreme Armut, lebhafte und gewalttätige Politik, eine glitzernde Filmindustrie (Bollywood) und diverse Kunst- und Kulturstätten. Wichtig ist aber auch, dass alle Einwohner auf die eine oder andere Weise zugewandert sind.

Einige kommen aus dem Umland, andere von weit entfernten Orten in Indien und den  Nachbarländern und manche auch aus Übersee. Was sie unterscheidet, ist, ob sie erst gestern, vor ein paar Jahren oder schon vor Jahrzehnten hergekommen sind.  

Für asiatische Verhältnisse ist Mumbai eine junge Stadt. Portugiesische Kolonialherren gründeten sie vor 500 Jahren. Der Ballungsraum wächst weiterhin schnell und hat nun eine Bevölkerung von über 20 Millionen, von denen 12 Millionen innerhalb der Stadtgrenzen leben. Etwa eine Million ist seit 2015 hergekommen, und nicht einmal die Hälfte davon stammt aus dem Bundesstaat Maharashtra, dessen Hauptstadt Mumbai ist. Von ihnen empfinden sich viele gar nicht als Zuwanderer, denn ihre Sprache Marathi ist hier die Ansprache. Allerdings werden in Mumbai auch alle anderen indischen Sprachen gesprochen – und Englisch, als Erbe der 300 Jahre lang dominanten Kolonialmacht.

Mumbai diskriminiert bei der Zuwanderung nicht nach Hautfarbe, Kaste oder Religion. Es gibt aber Spannungen, und die mächtige Regionalpartei Shiv Sena nutzt das geschickt aus. Manchmal betont sie ihre hinduistische Identität. Sie kann sich aber auch gegen Nord- oder Südinder wenden. Wie allen Parteien Mumbais werden ihr Korruption, Vettern- und Günstlingswirtschaft vorgeworfen.
 

Das typische Migrationsmuster

Die Stadt ist voller Menschen und für neue Siedlungen fehlt der Platz. Dennoch reißt der Zustrom nicht ab. Das typische Muster ist, dass zuerst ein einzelnes Individuum kommt – meist, aber nicht immer, ein Mann. Er übernachtet in einem kleinen Wohnheim mit anderen Arbeitern oder mietet sich ein winziges Zimmer. So oder so lebt er in einem Slum. Sein Hauptziel ist, genug Geld zu verdienen, um andere Familienmitglieder nachzuholen. Wer viel Geld nach Hause schicken muss, um besonders arme Verwandte zu unterstützen, hat damit möglicherweise keinen Erfolg. Manche Pechvögel werden drogenabhängig oder müssen sich prostituieren. Sie entkommen den schlimmsten Wohnverhältnissen nie.

Den meisten Migranten gelingt es aber irgendwann, ihre Familie in der Großstadt wieder zu vereinen. Sie sagen dann, Mumbai habe sie reich beschenkt und ihr Leben erträglich gemacht (so ist es übrigens auch meiner eigenen Familie ergangen – siehe Box). In der Metropole können Menschen der entsetzlichen ländlichen Armut entfliehen. Genau deshalb kommen ständig weitere Zuwanderer hier an.  

In Mumbai leben heute 21 000 Menschen pro Quadratkilometer. Die Volkszählung von 2011 zeigte, dass 42 Prozent in einem Slum wohnen. Wenn alle Varianten von billigem Wohnraum mitgezählt werden, steigt ihr Anteil sogar auf 57 Prozent.

Ein Netz von Slums durchzieht die ganze Stadt. Wer eines der Armutsquartiere betritt, fühlt sich wie in einem Labyrinth – oder einer Hölle. Wasser steht in offenen Gräben und überall liegt Müll. Abfallhaufen sind von Katzen, Hunden und Ziegen bevölkert – sowie von Ratten, Hühnern und nackten Kindern. Dennoch empfinden die Anwohner die Situation als gut, denn im Gegensatz zum Heimatdorf haben sie hier Aussichten auf Arbeit. Sie können auch neue Kompetenzen erwerben und ihren Kindern eine solide Schulbildung ermöglichen.
 

Pandemie-Lockdown

Die Lebensbedingungen im Slum sind offensichtlich unhygienisch, und Malaria, Cholera, Ruhr, Typhus und Gelbsucht sind verbreitet. Die meisten Menschen leben mit anderen in einem einzigen Raum, sodass Abstandhalten nicht möglich ist. Als Dach dient oft eine Zeltplane, und viele Hütten sind provisorische Bretterbuden. Dass sich das neue Coronavirus schnell verbreitete, war keine Überraschung. Im Frühjahr ergab eine Stichprobe mit 7000 Slumbewohnern, dass die Hälfte infiziert war.

Die Bundesregierung in Delhi verhängte schnell einen harten Lockdown über das ganze Land. Die Slumbevölkerung traf er besonders brutal. Die Leute waren in winzigen Zimmern gefangen, die sie oft mit Fremden teilten und in denen sie keinen frischen Luftzug abbekamen. Die Menschen konnten zudem kein Geld mehr verdienen. Hunger ließ manche rebellieren, aber die Polizei griff hart durch. Covid-19 breitete sich derweil weiter aus. Die Sterberate blieb aber verhältnismäßig niedrig – nicht zuletzt, weil die Slumbevölkerung sich so gut wie möglich an Hygieneregeln wie Maskentragen hielt. Sie verdient Lob für die Disziplin, mit der sie dieser Krise begegnete, aber die Mittelschichten verachten sie nur und behaupten, sie verbreite die Seuche.

Fest steht, dass die Behörden nicht für hygienische Verhältnisse in den Armutsvierteln sorgen. Auch heute mangelt es in Mumbais Slums am Zugang zu sicherem Trinkwasser. Amtliche Statistiken zeigen, dass nur 73 Prozent der Slums Gemeinschaftstoiletten haben. Von zivilgesellschaftlichen Organisation betriebene Bezahltoiletten gibt es nicht mal in einem Prozent der Slums. Die Verrichtung der Notdurft unter freiem Himmel bleibt folglich weit verbreitet.
 

Langsamer Aufstieg

Zuwanderer ringen mit vielen Schwierigkeiten, aber den meisten gelingt es, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und voranzukommen. Anfangs wohnen sie in winzigen Slumzimmern, die erdrückenden Gefängniszellen gleichen. Irgendwann ziehen sie aber in bessere Behausungen um. Was Außenstehende anfangs nicht erkennen, ist, dass es erhebliche Qualitätsunterschiede zwischen und innerhalb von Slums gibt.

Bemühungen, die Wohnsituation armer Menschen zu verbessern, haben durchaus etwas bewirkt. Teils waren es staatliche Maßnahmen, teils Initiativen der Zivilgesellschaft. Wer in einem aufgewerteten Slum lebt, hat beispielsweise meist einen legalen Anschluss an das Stromnetz. Die Qualität der Wasser- und Sanitärversorgung ist nicht überall gleich schlecht. Das amtliche Slum Rehabilitation Programme hat Ergebnisse gezeitigt. Obendrein gab es staatliche Lotterien, bei denen besserer Wohnraum verlost wurde. Mit gutem Grund vermuten aber viele, dass Schmiergeld dabei eine Rolle spielte.

Insgesamt ist die Lage in den Slums jedoch kaum besser geworden. Weil ständig neue Menschen hinzukommen, wächst die Bevölkerung weiter, und das Szenario bleibt elend.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Satellitenstädte entstanden, in denen die Wohnungen aber sehr teuer sind. Zugewanderte der ersten Generation können sie sich in der Regel nicht leisten. Sie arbeiten im informellen Sektor und können Banken folglich kreditrelevante Dokumente nicht präsentieren. In den neuen Vorstädten leben Mittelschichten, die ihr Einkommen in einer registrierten Firma oder dem Staatsdienst verdienen. Die bloße Tatsache, dass sie nicht mehr in Mumbai wohnen, reduziert aber immerhin den Bevölkerungsdruck in der Stadt.


Rahman Abbas lebt als Romanautor in Mumbai. Er schreibt auf Englisch und Urdu. 2018 gewann er mit dem Roman „Rohzin“ den angesehenen Literaturpreis Sahitya Akademi Award. Das Buch ist auf Deutsch unter dem Titel „Die Stadt, das Meer, die Liebe“ im Draupadi-Verlag (Heidelberg, 2018) erschienen. Penguin Random House India wird 2021 zwei Romane von Rahman Abbas auf Englisch veröffentlichen – darunter auch eine Übersetzung von Rohzin
rahmanabbas@gmail.com
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