Migration
Die indische Diaspora hat auch ohne Wahlbeteiligung Einfluss
Protestierende Bauern haben in Indien den Winter geprägt. Prominent vertreten waren Landwirte aus dem Punjab, wo viele Sikhs leben. Zu Zehntausenden versammelten sie sich am Stadtrand von Delhi, wo sie Polizeigewalt und schlechtem Wetter ausgesetzt waren. Sie engagierten sich gegen Agrarreformpläne der nationalen Regierung, weil sie den Abbau von Subventionen fürchteten. Die Regierung wollte Marktkräfte stärken.
Die Lage war angespannt, aber von prominenten Auslandsindern kam Unterstützung. Viele haben Verwandte in Indien, die tendenziell von der Landwirtschaft abhängen. Besonders stark vertreten waren abermals Sikhs. So tweetete beispielsweise Tanmanjeet Singh Dhesi, der für die Labour Party im britischen Unterhaus sitzt: „Ich halte zu den Bauern aus Punjab und anderen Teilen Indiens, zu Angehörigen und Freunden, die friedlich gegen die drohende Liberalisierung der Agrarmärkte protestieren.“
Ein weiterer prominenter Unterstützer war Kanadas Verteidigungsminister Harjit Sajjan, ebenfalls ein Sikh. Ein Tweet von ihm lautete: „Berichte über Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten in Indien sind sehr beunruhigend.“ Sogar Kanadas Premierminister Justin Trudeau nahm Stellung. Er teilte mit, seine Regierung habe „unsere Besorgnis auf mehreren Kanälen“ den indischen Amtskollegen mitgeteilt.
Tatsächlich sind Sikhs in der kanadischen Politik eine wichtige Interessengruppe. Ihr gehören 18 der 338 Parlamentsmitglieder an. Folglich haben alle großen kanadischen Parteien die umstrittenen Reformpläne in Indien kommentiert.
Im Januar stoppte das Oberste Gericht die Reformpläne. Nun verhandeln Regierung und Bauernverbände über einen Ausweg aus der Krise. Die Lage bleibt aber angespannt, und Ende Januar wurde im Rahmen einer Demonstration sogar das berühmte Rote Fort in der Hauptstadt gestürmt.
Klar wurde indessen abermals, dass die Diaspora in der indischen Politik Gewicht hat. Indiens Regierungschef Narendra Modi lehnt ausländische Einflussnahme auf interne Angelegenheiten selbstverständlich ab. Allerdings wird alles, was Sikhs in Indien umtreibt, auch zu einem Thema für Sikhs im Ausland.
Ganz grundsätzlich gilt, dass die gesamte indische Diaspora Einfluss auf das Heimatland hat. Dem Rechtspopulisten Modi behagt es deshalb nicht, dass in der neuen Mitte-links-Regierung von US-Präsident Joe Biden Auslandsinder wichtige Positionen einnehmen – allen voran Vizepräsidentin Kamala Harris, deren Mutter aus dem südindischen Tamil Nadu kam. Auf solche Karrieren sind viele Inder stolz, weshalb Führungsfiguren wie Harris wichtige Vorbilder sind.
Allerdings genießen alle wichtigen indischen Parteien ein gewisses Maß an Unterstützung in der Diaspora. Das gilt auch für Modis hindu-chauvinistische BJP. Alle Politiker wollen, dass so etwas im Inland bekannt ist. Politisch stand Modi dem Biden-Vorgänger Donald Trump nah, für den ebenfalls prominente Auslandsinder arbeiteten. Die bekannteste war UN-Botschafterin Nimrata Nikki Haley, die Ende 2018 zurücktrat. Auch Modi selbst hat Anhänger in der indischen Diaspora, und bei seinem Texas-Besuch 2019 feierten Zehntausende sogenannte NRIs (non-resident Indians) ihn und Trump bei einer Kundgebung mit dem Titel „Howdy Modi“.
31 Millionen Menschen
Indien ist einer der beiden asiatischen Bevölkerungsgiganten. Laut UN-Daten (International Migrant Stock of 2019) leben 17,5 Millionen Staatsbürger im Ausland, wobei die Zahl seit 2015 von 15,9 Millionen um zehn Prozent gestiegen ist. Inder stellen 6,4 Prozent der internationalen Migranten weltweit, mehr als jedes andere Land. Unter den hochqualifizierten Zuwanderern in OECD-Ländern sind sie die größte Gruppe. Andererseits arbeiten auch viele ungelernte indische Migranten in den ölreichen Golfstaaten. Das indische Außenministerium schätzt, dass 2019 die Gesamtzahl der NRIs sowie der Nachfahren indischer Migranten mit anderer Staatsangehörigkeit 31 Millionen betrug.
In den vergangenen Jahrzehnten gehörte Indien entsprechend zu den Ländern, welche die meisten Heimatsüberweisungen bekamen (siehe hierzu auch Dilip Ratha auf Seite 32 in diesem e-Paper). 2019 beliefen sie sich auf etwa drei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung. Fachleute erwarteten allerdings für 2020 wegen Covid-19 einen Rückgang der Gesamtsumme um etwa neun Prozent auf 76 Milliarden Dollar.
Der Einfluss der Diaspora beruht allerdings nicht nur auf Geld. Indiens Unternehmen in der Informations- und Kommunikationstechnik profitieren beispielsweise von den Netzwerken, die sie mit Silicon Valley und anderen Zentren technologischer Entwicklung verbinden. Das gilt entsprechend für alle High-Tech-Branchen.
Langfristig prägen Auswanderer, die im Ausland erfolgreich sind, die Einstellungen der Menschen, die in der Heimat bleiben. Das betrifft unter anderem Geschlechterrollen. Bollywood-Filme greifen regelmäßig Diaspora-Themen auf, und manchmal spielen sie sogar im Ausland.
Wie NRIs gesehen werden, ist ambivalent, urteilt die französische Journalistin Ingrid Therwath, die ihre Doktorarbeit über Politik und die indische Diaspora geschrieben hat. Einerseits stünden NRIs für die moderne kapitalistische Konsumgesellschaft, andererseits aber auch für patriarchalische Hindu-Traditionen. Manche Beobachter hielten sie für „Instrumente des westlichen Einflusses in Indien“, während andere sie stattdessen als anerkannte Vertreter von „Indiens internationaler Bedeutung“ wahrnehmen.
Vielfach beweisen erfolgreiche Migranten, wie wichtig formale Bildung ist. Das gilt besonders, wenn Angehörige niedriger Kasten im Ausland aufsteigen. Andererseits haben Angehörige hoher Kasten in Kalifornien bekanntlich als Mitarbeiter großer Softwareunternehmen Kastendiskriminierung in den USA praktiziert. Das zeigt, dass Diasporagemeinschaften Einfluss sowohl auf ihr Ziel- als auch ihr Herkunftsland haben.
Indische Wahlen
Bislang bleibt die Bedeutung der NRIs bei indischen Wahlen marginal. Wer die indische Staatsbürgerschaft behalten hat, darf teilnehmen, muss dafür aber ein Wahllokal in Indien besuchen und dort entsprechend registriert sein. Bei den Parlamentswahlen 2019 gaben folglich nur 25 000 NRIs ihre Stimme ab. Andererseits griffen viele anderweitig in den Wahlkampf ein – mit Spenden, strategischem Rat, technischer und sonstiger Unterstützung.
Die indische Wahlbehörde hat kürzlich vorgeschlagen, den NRIs Briefwahl zu ermöglichen. Testweise kann das bei Landtagswahlen in diesem Jahr schon geschehen. NRIs würden dann per Post in den Bundesstaaten Assam, Kerala, Puducherry, Tamil Nadu und Westbengalen wählen können.
Heiß debattiert wird nun, welche Parteien davon profitieren könnten. Manche Politikwissenschaftler sehen die Kongresspartei im Vorteil. Andere widersprechen, denn Modis BJP habe sich intensiv um die Diaspora bemüht. Auch die Linksfront, die derzeit die Landesregierung von Kerala stellt, könnte viele NRI-Stimmen bekommen. Sie hat in der Landespolitik viel für Migranteninteressen getan. Kerala ist dabei in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Es hat große muslimische und christliche Bevölkerungsgruppen, und obendrein ist die Zahl der Arbeitsmigranten, die von dort in die Golfstaaten ziehen, besonders groß.
Ob NRIs künftig bei indischen Wahlen eine größere Rolle spielen als bisher, bleibt abzuwarten. Es steht aber bereits fest, dass sie auch ohne Wahlbeteiligung für die Entwicklung der Nation bedeutsam sind.
Roli Mahajan lebt als freie Journalistin in Lucknow, Indien.
roli.mahajan@gmail.com