Globale Biodiversität

Die Grundlage unserer Existenz

Der fortschreitende Rückgang der Biodiversität bedroht weltweit unsere Lebensgrundlagen und die Ernährungssicherheit. Eine Lösung gelingt aber nur ganzheitlich, indem wir Menschenrechte und Artenvielfalt gleichermaßen wahren. Im Interview zeigt sich die Leiterin der Abteilung für Artenvielfalt, Menschen und Landschaften des UNEP zuversichtlich.
Tausende tote Fische treiben im Hatirjheel-See in Dhaka, Bangladesch. picture-alliance/NurPhoto/STR Tausende tote Fische treiben im Hatirjheel-See in Dhaka, Bangladesch.

Warum sind Wildtiere und Biodiversität so wichtig?
Sie sind die Grundlage unserer Existenz auf diesem Planeten. Biodiversität ist der Grundstein von Ökosystemen, und Ökosysteme sind der Grund, weshalb wir Nahrung, Kleidung und Luft zum Atmen haben. Auch unser Wirtschaftssystem hängt davon ab. Letztlich sind wir bei allem auf natürliche Ressourcen angewiesen.

Welche konkreten Auswirkungen wird der fortschreitende Verlust der Biodiversität auf die Lebensgrundlagen und die Ernährungssicherheit der Menschen haben?
Gibt es keine Fische mehr im Meer, kann der Mensch sie auch nicht mehr essen. Gesunde Ernährung setzt gesunde Böden voraus, und saubere Luft Pflanzen. Ohne sie überleben wir nicht. Lernen können wir von Indigenen: Sie haben eine enge Verbindung zur Natur. In Industrieländern scheint diese Verbindung oftmals der Profitgier gewichen. Darunter leiden unsere Gesundheit und auch unsere Kultur.

Wie beurteilen Sie Konflikte zwischen Menschenrechten und Biodiversität, zum Beispiel in Bezug auf die Vertreibung indigener Völker?
80 Prozent der weltweit verbleibenden Artenvielfalt befinden sich in Gebieten indigener Völker. Und mehr als 90 Prozent dieser Gebiete sind in gutem oder akzeptablem Zustand. Mindestens 36 Prozent von ihnen befinden sich außerdem in Regionen, die als sehr wichtig für die Biodiversität gelten. Indigene Gemeinschaften spielen also zweifellos eine zentrale Rolle.

Und dennoch wurden immer wieder indigene Völker in kolonialer Manier für Naturschutzmaßnahmen vertrieben – obwohl sie ihr Land lange vor den Kolonisatoren nachhaltig zu bewirtschaften wussten.

Naturschutz und das Achten der Menschenrechte sollten sich niemals widersprechen. Ganz im Gegenteil: Sie sollten Grundlage für den Schutz des Artenreichtums sein. Indigene Völker sind die besten Schützer der Biodiversität. Wir müssen einen inklusiveren Weg des Naturschutzes für ein nachhaltiges Management biologischer Vielfalt einschlagen.

Sind alle Arten von gleicher Bedeutung für das Überleben unseres Planeten, und wie wissen wir, welche Arten am wichtigsten sind?
Ich hoffe, dass wir eine solche Entscheidungen niemals treffen müssen. Alle Arten sind Teil eines komplexen Systems mit eigener Aufgabe. Es ist wie mit einem Motor: Nimmt man eine Komponente heraus, läuft er noch – nur nicht sonderlich gut. Nimmt man noch mehr heraus, bricht irgendwann das System zusammen. Wir müssen deshalb nicht nur die Nashörner und Elefanten schützen. Auch die kleinen Arten sind entscheidend. Niemals sollten wir Arten gegeneinander abwägen, sondern das System als Ganzes betrachten.

Beispiele wie der Rückgang der Bienenpopulation sind der Öffentlichkeit recht gut bekannt. Gibt es andere wichtige, aber weniger bekannte Arten, die vom Aussterben bedroht sind?
Laut der Roten Liste der Internationalen Union für Naturschutz (IUCN) sind derzeit mehr als 42 000 Arten vom Aussterben bedroht. Nicht alle von ihnen sind so prominent wie Bienen. Aber wie gesagt: Es geht um das System als Ganzes.

Welche Rolle spielt die marine Artenvielfalt?
Der Ozean bedeckt zwei Drittel unseres Planeten. Weil er Kohlenstoff bindet, könnte er beim Klimaschutz kaum wichtiger sein. Und in ihm leben Arten wie Mangroven, in denen wiederum junge Fische aufwachsen. Für Millionen von Menschen sind Meerestiere wie sie eine bedeutsame Proteinquelle. Ohne den Ozean wären wir schlechter dran als ohnehin schon.

Wie sollte also eine vernünftige „Blue Economy“ aussehen?
Der Schlüssel ist Nachhaltigkeit: nicht mehr entnehmen, als nachwächst. Gleichzeitig müssen menschliches Wohlergehen und die Wirtschaft berücksichtigt werden. Dazu gehört nicht nur, Meeresgebiete zu schützen, sondern auch die Rechte von Küstengemeinden. Mit Kontrollen und Fortschritten in der Forschung können wir zum Beispiel Fischbestände überwachen und Fangquoten festlegen.

An Land bedroht Hightech-Landwirtschaft die Artenvielfalt. Wie muss ein biodiversitätsfreundlicher landwirtschaftlicher Ansatz aussehen?
2021 veranstaltete die UN den internationalen Gipfel für Ernährungssysteme. Eine der Hauptempfehlungen dieses Treffens war es, umweltfreundlicher zu produzieren. Das bedeutet, mit der Natur zu arbeiten statt gegen sie. Denn bei industriellen Monokulturen kann sich der Boden nicht mehr regenerieren und muss ständig künstlich gedüngt werden.

Ein umweltfreundlicher Ansatz arbeitet hingegen mit agroökologischen Prinzipien wie umweltfreundlichen Düngemitteln, Mischkulturen und Fruchtfolgen und berücksichtigt auch Flächen, die für die Regeneration des Bodens notwendig sind. Auch die Baumarten spielen eine Rolle: Im großen wie im kleinen Maßstab sollten wir mehr einheimische Arten nutzen. Und natürlich hängt der Wandel auch mit unseren Konsumgewohnheiten zusammen. Damit er gelingt, müssen wir uns vielfältig ernähren und stark verarbeitete Lebensmittel aus Monokulturen vermeiden.

Solche Ansätze stehen manchmal im Widerspruch zu den Zielen wirtschaftlicher oder infrastruktureller Entwicklung, zumal viele Biodiversitäts-Hotspots in Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen liegen. Wie lässt sich das besser als in der Vergangenheit in Einklang bringen? Wie können Armut und Hunger bekämpft werden, ohne die Artenvielfalt zu gefährden?

Die Antwort ist zweigeteilt. Es geht darum, die globalen Konsummuster zu ändern und Wege zu finden, mit der Natur zu leben und von ihr zu profitieren, ohne sie übermäßig auszubeuten.

Artenvielfalt ist vor allem deshalb in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen so hoch, weil sie ihre Gebiete noch nicht überwirtschaften. Hochentwickelte Länder haben bereits einen großen Teil ihrer Artenvielfalt zerstört. Die Entwicklungsländer sollten dafür gelobt werden, dass sie ihre biologische Vielfalt bewahrt haben und unterstützt werden, um sie zu erhalten. Noch passiert aber genau das Gegenteil: Ein Großteil der Produktion in Entwicklungsländern ist für den Konsum reicherer Länder bestimmt. Landwirtschaftliche Flächen für den lokalen Konsum schrumpfen.

Das muss sich ändern. Zum einen indem reiche Länder ihren Konsum reduzieren. Und zum anderen indem wir weltweit agroökologische Prinzipien entwickeln, die Viehzucht, Landwirtschaft und Artenvielfalt in Einklang bringen.

Ein Beispiel dafür ist Naturschutz auf Gemeinschaftsebene, wie er in vielen Entwicklungsländern praktiziert wird. Es gibt verschiedene Ansätze dazu. In Kenia beispielsweise verlassen Gemeindemitglieder freiwillig ein bestimmtes Gebiet und bewirtschaften andere Flächen, damit die Wildtiere geschützt sind. In Namibia betreiben einige Gemeinden weiterhin Ackerbau und Viehzucht auf ihrem Land, halten bestimmte Zonen aber für Wildtiere frei. Gemeinsam haben sie, dass sie hohe Einkommen aus Tourismus oder Kohlenstoffkrediten erzielen. Auf diese Weise müssen sie ihr Land nicht für eine extensive Landwirtschaft umgestalten.

Welche weiteren Schritte müssen unternommen werden, um Biodiversität zu schützen, und welche Rolle spielt UNEP dabei?
Unsere Aufgabe ist es, Wissenschaft und Politik zusammenzubringen. Wir analysieren Daten und veröffentlichen sie in unseren Publikationen wie dem Global Environment Outlook (GEO). So helfen wir den Mitgliedstaaten dabei, informierte Entscheidungen zu treffen und das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) einzuhalten.

Außerdem unterstützen wir Länder dabei, die Ziele des Globalen Biodiversitätsrahmens von Kunming-Montreal einzuhalten, die bei der UN-Biodiversitätskonferenz (COP15) 2022 beschlossen wurden, indem wir sie bei der Entwicklung nationaler Biodiversitätsstrategien beraten.

Das ist allerdings nur eine von vielen Ebenen. UNEP unterstützt Regierungen, um der Umwelt eine Stimme zu geben. Aber auch indigene Völker und lokale Gemeinschaften spielen eine große Rolle, ebenso wie Nichtregierungsorganisationen und der Privatsektor. Es ist ein ganzheitliches System, mit dem wir uns befassen, von Einzelpersonen über Unternehmen bis hin zu Regierungen.

Wie bewerten Sie die Fortschritte, die seit dem UN-Gipfel in Rio vor dreißig Jahren erzielt wurden, insbesondere im Hinblick auf die CBD?
Auch wenn wir die Ziele der CBD bisher nicht erreicht haben, war sie ein wichtiger Meilenstein. Der öffentliche Wille, das Richtige zu tun, ist da. Und der Globale Biodiversitätsrahmen von Kunming-Montreal bietet eine neue Möglichkeit, endlich starke Ergebnisse für die biologische Vielfalt und den Nutzen der gesamten Gesellschaft zu erreichen.

Welche Bedeutung messen Sie diesem Rahmenwerk und der COP15 bei?
Für mich war die COP15 eine Achterbahn der Gefühle. Es erschütterte mich anfangs, dass niemand zu Kompromissen bereit war, und ich befürchtete, dass wir nicht weiterkommen.

Umso bemerkenswerter ist, was wir erreicht haben: Indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften wurde ihre entscheidende Rolle genauso zuerkannt wie Frauen. Die Vereinbarung bindet alle mit ein und ist deshalb für mich der Schlüssel zum nachhaltigen Erhalt der Artenvielfalt. Denn Erfolg haben wir nur, wenn wir als globale Gemeinschaft zusammenarbeiten. Das gibt mir Hoffnung.

Link
The Global Environment Outlook
https://www.unep.org/geo/

Melissa de Kock leitet den Bereich „Biodiversity, People and Landscapes“ beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, UNEP).
unep-newsdesk@un.org

 

Edit: Am 08.12.2023 wurde auf Hinweis eines Lesers in der deutschen Version dieses Textes die erste Antwort verändert, um besser der englischen Version zu entsprechen. Die englische Version blieb unverändert. E+Z/D+C