Internationales Recht
Die Relevanz des IStGH für Sudans Bürgerkrieg
Im Juli wurde im Lager Zamzam in Nord-Darfur im Sudan offiziell eine Hungersnot ausgerufen. Bis zu 800 000 Zivilist*innen hatten dort Zuflucht gesucht. Auch in anderen Teilen Darfurs und im übrigen Land herrscht Hunger. Offensichtlich sind Menschen massenhaft gefährdet.
Der Ausruf einer Hungersnot ist immer ein verspäteter Alarm, der katastrophal schändliches Versagen markiert. Diese Katastrophe ist eindeutig menschengemacht.
Die sudanesischen Streitkräfte (SAF) und die schnellen Eingreiftruppen (RSF) führen seit 16 Monaten einen Bürgerkrieg, bei dem sie Menschen absichtlich verhungern lassen. Berichten zufolge haben die Streitkräfte beider Seiten Lebensmittel geplündert, Nahrungsmittelsysteme zerstört, Menschen daran gehindert, sich zu versorgen, und die Lieferung humanitärer Hilfe blockiert.
Ende Mai prognostizierte das Clingendael-Institut, dass bis September 2,5 Millionen sudanesische Zivilist*innen verhungern könnten – vor allem Kinder. Das Leid der Überlebenden wird das soziale Gefüge zerreißen und über Generationen nachwirken.
Viele werden weiteres Unrecht erfahren. Kämpfern beider Seiten werden Massaker, Angriffe auf Gesundheitsversorgung und Medienschaffende, Zerstörung, Zwangsvertreibung, Plünderung, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt sowie Verbrechen an Kindern vorgeworfen.
Völkermörderische Gräueltaten
Fachleute und zivilgesellschaftliche Gruppen sprechen von „Völkermord“ – wie schon während des Bürgerkriegs zu Beginn des Jahrhunderts, der bis heute nachhallt.
Damals ließ die internationale Gemeinschaft die Menschen in Darfur im Stich – trotz der kurz zuvor formulierten „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect – R2P). Sie verpflichtet die internationale Gemeinschaft zu intervenieren, wenn ein Staat dabei versagt, Gräueltaten zu verhindern.
Vor 20 Jahren machte Aktivismus immerhin international auf Darfur aufmerksam. Heute überschatten die Kriege in der Ukraine und Gaza den Sudan. Im Sudan bedeutet die Gleichgültigkeit der Weltöffentlichkeit grausame Gewalt gegen die Zivilbevölkerung.
Warum der IStGH zuständig ist
Etwas hat die internationale Mobilisierung in den Nullerjahren aber erreicht. 2005 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1593 und verwies damit Darfur an den noch jungen IStGH. Das war bemerkenswert. Sie war die erste ihrer Art, die zweite gab es 2011 zu Libyen. Entscheidend war, dass die USA auf ihr Veto verzichteten, obwohl Präsident George W. Bushs Haltung zum IStGH feindselig war.
Die Zuständigkeit des IStGH hängt normalerweise davon ab, ob der Staat, in dem sich die mutmaßlichen Verbrechen ereignet haben, oder der Staat, aus dem die mutmaßlichen Täter*innen stammen, dem IStGH beigetreten sind oder dessen Verfahren zugestimmt haben. Der Sudan hat weder das IStGH-Statut ratifiziert noch seiner Zuständigkeit zugestimmt. In so einem Fall kann nur der Sicherheitsrat das internationale Gericht zuständig machen.
Pikanterweise sind drei ständige Sicherheitsratsmitglieder mit Vetorecht dem IStGH nicht beigetreten: USA, Russland und China. Khartum hat das früh moniert.
Eine tiefere Kontroverse brach vier Jahre später aus, als der IStGH einen Haftbefehl gegen den damaligen sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir erließ. Ihm wurden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, später auch Völkermord vorgeworfen.
Spannungen zwischen AU und IStGH
Normalerweise genießen Staatsoberhäupter diplomatische Immunität gegen Haftbefehle anderer Staaten – es sei denn, ihr eigenes Land hat auf die Immunität verzichtet (was beispielsweise IStGH-Ratifizierung bewirkt). Der Sudan hat sich nie darauf eingelassen, aber viele afrikanische Staaten sind dem IStGH beigetreten. Die Afrikanische Union (AU) sträubte sich dennoch dagegen, dass diese Mitgliedsstaaten verpflichtet wären, al-Bashir zu verhaften.
Dieser Streit trübte die Beziehungen zwischen AU und IStGH. Er wurde erst 2019 beigelegt, nachdem al-Bashir seines Amtes enthoben war. Kurz schien es sogar, Sudan könne al-Bashir an den IStGH überstellen. 2020 reiste Fatou Bensouda, die damalige IStGH-Anklägerin, mit dem Ziel der Kooperation nach Khartum. Diese kam nicht zustande.
Als vor 16 Monaten erneut Gewalt ausbrach, hatte ein sudanesisches Gericht al-Bashir bereits wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt. Ein weiteres Verfahren lief wegen des Staatsstreichs, der ihn 1993 an die Macht gebracht hatte. Eine Überstellung an den IStGH war nicht in Sicht.
Der IStGH nahm aber nicht nur al-Bashir ins Visier. Dessen früherer Gefolgsmann Ali Muhammad Ali Abd-Al-Rahman („Ali Kushayb“) wurde an das Gericht überstellt, nachdem er sich 2020 in der Zentralafrikanischen Republik gestellt hatte. Sein Prozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur wird noch in diesem Jahr abgeschlossen. Er war der mutmaßliche Anführer der Janjaweed-Miliz.
Heute kämpfen die Nachfolgekräfte der beiden Männer gegeneinander. Die RSF unter Führung von General Mohamed Hamdan Dagalo („Hemedti“) ist aus den Janjaweed hervorgegangen. General Abdel Fattah al-Burhan führt Sudans Regierung und die SAF. Da ihre Truppen immer brutaler agieren, sind weitere Haftbefehle zu erwarten.
Alle Welt schaut derzeit auf die Ukraine und Gaza. Der derzeitige Ankläger des IStGH, Karim Khan, hat in beiden Fällen bemerkenswerte Schritte unternommen und Haftbefehle gegen die Spitzenpolitiker von Russland, Israel und der Hamas beantragt.
Den Sudan hat er aber nicht vergessen. Am 6. August nannte er Darfur eine „Hölle auf Erden“. Sein Büro werde ermitteln, warnte er RSF, SAF und Unterstützende. Dem Sicherheitsrat teilte er mit: „Ich hoffe, dass ich bis zu meinem nächsten Bericht [in sechs Monaten] Anträge auf Haftbefehle gegen die Personen oder einige der Personen ankündigen kann, die die größte Verantwortung für das tragen, was aktuell geschieht.“
Khans Aussage war klar. Aber es gibt rechtliche Komplikationen. Zunächst muss die Gültigkeit der zwei Jahrzehnte alten Zuständigkeit geklärt werden. Die Befugnisse des IStGH beschränken sich nicht auf Taten, die vor einem Mandat des Sicherheitsrats stattfanden. Wegen Taten in Darfur und Libyen wurden Jahre nach den jeweiligen Resolutionen noch Verfahren gegen mutmaßliche Täter eingeleitet, weil sie mit den laufenden bewaffneten Konflikten, auf die sich die Entscheidungen bezogen hatten, zusammenhingen.
Weil das, was in Darfur geschieht, eine Neueskalation eines langanhaltenden Konflikts mit Widerholungstätern aus der Zeit der Nullerjahre ist, ist es juristisch plausibel, die Resolution von 2005 als weiterhin gültig anzusehen. Das wird der IStGH wahrscheinlich auch tun. Aus politischen Gründen wäre es problematisch, wenn er sich angesichts der Dringlichkeit der Lage weiter zurückhielte. Dennoch verdient die Frage, wann seine auf der Resolution beruhende Zuständigkeit endet, Aufmerksamkeit.
Relevant ist auch, dass aktuelle Gräueltaten sich nicht nur in Darfur abspielen. Das ist zwar eindeutig die Region, in der die schlimmsten Gewalttaten verübt wurden und in der eine Hungersnot ausgerufen wurde. Hunger, sexuelle Gewalt und Morde an der Zivilbevölkerung gab es aber auch in anderen Landesteilen. Es wäre arg selektiv, wenn der IStGH nur auf Verbrechen in einer Region reagieren würde, weil diese schon vor 20 Jahren internationale Beachtung fand. Die ursprüngliche Resolution des Sicherheitsrats war jedoch eindeutig formuliert, und bisher blieben alle Verfahren innerhalb der seinerzeit benannten geografischen Grenzen.
Wegen der Intensität der Straftaten in Darfur hätte Ankläger Khan gute Argumente dafür, zunächst Haftbefehle zu beantragen, die sich auf dortige Ereignisse beziehen. Wahrscheinlich wird er das auch tun. Offen ist:
- ob er versuchen wird, darüber hinaus zu gehen,
- und, falls ja, ob das Gericht ihm zustimmt.
Hinter all dem steht die Frage der Legitimität des IStGH. In den ersten anderthalb Jahrzehnten seines Bestehens wurde dem Gerichtshof vorgehalten, er konzentriere sich nur auf Afrika. Seitdem agiert er aber stärker global, allerdings mit politischem Gegenwind. Nun steht er an einem Scheideweg.
Bemühungen um Rechenschaftspflicht im Sudan sind zweifellos notwendig. Regierungen, die das so sehen, sollten Khans Ermittlungen unterstützen und sich hinter den IStGH stellen. Zugleich müssen sie anerkennen, dass der Erfolg des Gerichtshofs davon abhängt, dass er glaubwürdig handelt – egal, welche Länder betroffen sind. Wer die Autorität des IStGH und seines Anklägers anzweifelt – besonders im Palästina-Kontext – schwächt ihn auch anderswo.
Gerechtigkeit ist nur unabhängig von der Identität der Opfer oder der mutmaßlichen Täter*innen möglich und förderbar.
Tom Dannenbaum lehrt internationales Recht an der Fletcher School of Law & Diplomacy im US-Bundesstaat Massachusetts.
tom.dannenbaum@tufts.edu