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Synkretismus

Religiöser Pluralismus sichert sozialen Frieden

Seit der Ausbreitung von Christentum und Islam in Afrika praktizieren viele Menschen eine Mischung religiöser Praktiken. Doch neuere Reformbewegungen lehnen das ab. Das führt zu Konflikten und Radikalisierung.
Die Dreifaltigkeitskathedrale in Addis Abeba ist die wichtigste äthiopisch-orthodoxe Kirche. kd Die Dreifaltigkeitskathedrale in Addis Abeba ist die wichtigste äthiopisch-orthodoxe Kirche.

Am 12. Mai dieses Jahres stürmten etwa 20 bewaffnete Männer im Dorf Dablo im Norden von Burkina Faso eine katholische Kirche während der Sonntagsmesse. Sie verbrannten Kreuze und andere heilige Gegenstände und ermordeten sechs Menschen, darunter den Priester. Die Angreifer riefen die anwesenden Gläubigen dazu auf, ihre Religion zu wechseln. Insgesamt verübten islamistische Extremisten in Burkina Faso in den vergangenen Monaten rund ein Dutzend Terroranschläge sowohl gegen Christen als auch gegen Muslime.

In Togos Hauptstadt Lomé zerstörten Vandalen im Juli und August 2018 mehrere Moscheen. Die Untersuchungen laufen noch. Die Angreifer zerrissen Korane und brannten ganze Gotteshäuser ab. Die Medien berichteten ausführlich, und politische und religiöse Führer verschiedener Seiten riefen die Gläubigen in der Folge dazu auf, sich gegen diese Angriffe zu vereinen und sich nicht in interreligiöse Konflikte verwickeln zu lassen.

Keine Religion ruft zu Gewalt auf, alle predigen ihren Anhängern moralisches Verhalten. Aber weltweit, von Myanmar bis in die USA, nehmen Konflikte zwischen den Religionen zu. Afrikanische Jugendliche stellen das Christentum und den Islam zunehmend in Frage. Ihre Begründung lautet, es handele sich um importierte Religionen. Stattdessen setzen sie sich für eine Rückkehr zu den alten afrikanischen Religionen ein.


Schutz und Strafe durch Geister

Religiöser Pluralismus hat seit jeher die afrikanischen polytheistischen Gesellschaften geprägt. Traditionell hatte jede Gemeinschaft, oft bis hinunter auf die Ebene einzelner Haushalte, ihre eigene Gottheit, die sie beschützte. Bei Familiengottheiten handelte es sich oft um Vorfahren, die die Familiengeschichte durch einen Akt der Tapferkeit oder ein Opfer für die Seinen geprägt hat. Nach traditionellen afrikanischen Vorstellungen sind die Toten niemals wirklich tot, die Geister der Vorfahren umgeben uns. Sie gewähren Schutz, können aber auch Familienmitglieder bestrafen, die gegen die Werte der Familie verstoßen. Neben Familiengottheiten gibt es auch Gottheiten der Dörfer.

Der Glaube an übernatürliche Kräfte, die für Regenfälle, Überschwemmungen und wilde Tiere im Wald verantwortlich sind, hat dazu geführt, dass die Afrikaner animistische Kulte entwickelt haben. Diese dienten unter anderem dazu, den unmittelbaren Lebensraum zu schützen. So verbat es der Respekt vor der „göttlichen Natur“, die Wälder übermäßig abzuholzen, Flüsse und Wasserquellen zu verschmutzen oder mehr Tiere zu töten, als die Familie zum Essen brauchte. Diese Werte gingen und gehen mit der Ausbreitung von Judentum, Christentum und Islam in Afrika verloren.

Die Geschichte der monotheistischen Religionen reicht in Afrika bis in die Zeit der ägyptischen Antike zurück, als Herrscher wie Echnaton versuchten, die Verehrung auf eine einzige Gottheit zu beschränken. In Abessinien, dem heutigen Äthiopien, entstanden Jahrhunderte später die ersten monotheistischen Tempel und Kirchen. Seit der Ankunft muslimischer Gemeinschaften im 7. Jahrhundert leben dort alle drei großen monotheistischen Religionen zusammen.

Der Islam breitete sich in Afrika durch die arabischen Eroberungen Nordafrikas und die muslimischen Händlerkarawanen stark aus. Letztere bewegten sich entlang der Ostküste und hatten Kontakt mit den Völkern aus der Sahelregion. Dann folgte ab dem 16. Jahrhundert der Aufstieg des Christentums mit Sklaverei und europäischer Kolonisation. Der Vormarsch dieser beiden Religionen in Afrika war von Konflikten und Blutvergießen gekennzeichnet, denn die Menschen wollten an ihren kultischen Praktiken und ihrer sozialen Ordnung festhalten und wehrten sich gegen die Bekehrung.

Schließlich siegten die Araber und Europäer aufgrund ihrer Waffenüberlegenheit – doch die traditionellen Religionen verschwanden niemals ganz, sondern vermischten sich mit den neuen, monotheistischen. Bis heute ist es nichts Ungewöhnliches, wenn Afrikaner sogar in der Kirche oder Moschee ihren Ahnenkult praktizieren. Die Vermischung religiöser Praktiken sichert seit langem einen gewissen sozialen Frieden. Zum Beispiel haben Anhänger animistischen Glaubens zumeist kein Problem damit, Land für den Bau von Kirchen oder Moscheen herzugeben, da dies die Ausübung ihrer Religion nicht behindert. Erst das Aufkommen neuer religiöser Bewegungen in jüngster Zeit, die diesen Synkretismus ablehnen, hat zur Entwicklung eines gewalttätigen religiösen Extremismus in Afrika geführt.


Zurück zu den Ursprüngen

Eine wichtige Rolle spielen dabei die internationalen religiösen Reformbewegungen, die sowohl im Westen als auch im Osten um sich gegriffen haben und deren Ziel es ist, zum „ursprünglichen“ Judentum, Christentum oder Islam zurückzukehren. Die Ausbreitung dieser Reformbewegungen in Afrika führte zu vielen religiösen Strömungen, die von außerhalb finanziert werden und die den religiösen Synkretismus bekämpfen.

Mittels geschickter Propaganda, sei es durch besonders charismatische Prediger oder professionelle Filme, die bestimmte Botschaften verbreiten, haben sich die Reformkirchen recht schnell durchgesetzt. Ihr rasanter Aufstieg lässt sich mit der prekären Lage erklären, in der viele Afrikaner leben, nachdem die Staaten es nach ihrer Unabhängigkeit nicht geschafft haben, sich wirtschaftlich und sozial zu entwickeln. Das Versagen der intellektuellen, wirtschaftlichen und politischen Eliten, bessere Lebensbedingungen für die Menschen zu schaffen, und die Ausbreitung von Korruption führten zu einer beispiellosen moralischen Krise. Auflehnung wird häufig unterdrückt, und so suchen viele Menschen ihr Heil in göttlicher Erlösung.

Die puritanische Religionspraxis wird in Kirchen und Moscheen als Lösung für Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption verkauft. Die in reichen Ländern in Ost und West mobilisierten Gelder fließen in humanitäre Hilfe und Projekte, die selbst die größten Zweifler davon überzeugt haben, ihre synkretistischen religiösen Praktiken aufzugeben. Auch Stipendien für Studien und Reisen in die Ursprungsländer der religiösen Reformbewegungen tragen dazu bei, die neuen Glaubensanhänger zu indoktrinieren. Und schließlich überzeugt der offensichtliche Reichtum religiöser Führer die Gläubigen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.


Radikalisierung durch Unterdrückung

Die extreme Ablehnung synkretistischer Kulte durch die Anhänger der Reformbewegungen bedroht den sozialen Frieden. Die dadurch entstehenden Konflikte werden oft gewaltsam ausgetragen. Dazu trägt die Unterstützung bei, die Reformbewegungen innerhalb der politischen Klasse genießen. Diese benutzt Religion in Afrika – wie auch in anderen Teilen der Welt – dazu, ihre Macht zu sichern. Politiker und religiöse Führer von Reformbewegungen schließen Allianzen zur gegenseitigen Unterstützung. Einige Bewegungen genießen den Schutz herrschender Politiker und können deshalb ungehindert Gewalt gegen andere religiöse Gruppen ausüben.

Andererseits bekämpfen Politiker bestimmte religiöse Bewegungen, die sie als Bedrohung ihrer Macht ansehen. Das endet oft im gewalttätigen Konflikt und treibt die radikalsten Anhänger dieser Gruppen in den Untergrund. So entstanden Rebellenvereinigungen wie Boko Haram in Nigeria. Die Ermordung ihres religiösen Anführers hat die gesamte Region in eine blutige Krise gestürzt und zu Millionen von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen geführt.

Ein dialogorientierter Ansatz hätte dieses Blutbad und enorme Leid für die Bevölkerung sicherlich vermeiden können. Dialog ist am besten geeignet, um politische Krisen zu lösen. Dazu muss man sich jedoch zunächst mit den Verbrechen der extremistischen Gruppen beschäftigen. Den Opfern fällt es oft schwer, eine Amnestie für die Täter zu akzeptieren. Die Betonung muss daher auf Vergebung gelegt werden. Vergebung öffnet die Tür zu aufrichtigem Dialog. Transitional Justice, zu der zum Beispiel auch eine Entschädigung der Opfer gehören kann, erleichtert die Vergebung. Und schließlich kommt auch der Religion eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung des sozialen Friedens zu: Schließlich führen Liebe, Vergebung und Frieden in den Himmel, nicht Hass und Gewalt. Daran müssen die radikalen Anhänger erinnert werden.


Samir Abi hat einen Abschluss in Bevölkerungswissenschaften und Entwicklung von der Universität Lüttich, Belgien, und arbeitet für Visions Solidaires, eine nichtstaatliche Entwicklungsorganisation in Togo.
samirvstg@gmail.com

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Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.