Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

Migration

Leben in der Warteschleife

Ein Teil der Geflüchteten, die in Deutschland oder anderen europäischen Ländern Schutz suchen, sind unbegleitete Minderjährige. Ohne Familie ist es für sie besonders schwer, ein neues Leben im Aufnahmeland zu beginnen. Doch es gibt staatliche und zivilgesell­schaftliche Organisationen, die ihnen bei den ersten Schritten in der Fremde helfen.
Omar aus Sierra Leone (Name geändert und Foto anonymisiert), der in einer sogenannten Verselbstständigungsgemeinschaft in Dormagen lebt. Breuer Omar aus Sierra Leone (Name geändert und Foto anonymisiert), der in einer sogenannten Verselbstständigungsgemeinschaft in Dormagen lebt.

In Dormagen in Nordrhein-Westfalen sitzt ein Jugendlicher in seinem kleinen Zimmer im zweiten Stockwerk eines WG-Hauses. Ein deutsch-englisches Wörterbuch, lose Blätter, ein DIN-A4-Heft voller Vokabeln sind auf dem Schreibtisch verstreut. Omar (Name geändert) aus Sierra Leone ist am 27. Dezember 2017 nach Deutschland gekommen: über Guinea, Mali, Algerien nach Marokko, dann mit einem Schlauchboot bis Spanien. Vier Monate Flucht reduziert auf die Aufzählung der durchquerten Länder.

Bis zu seinem 10. Lebensjahr sei er zur Schule gegangen, erzählt er. Nach dem Tod seiner Mutter habe er die Schule abgebrochen. Der Alltag – Gewalt, Angst und Drohungen. Das Ziel – einfach nur weg. Mehr möchte der 16-Jährige nicht erzählen. Seit einer Woche lebt er in einer sogenannten Verselbstständigungsgruppe. Das Ziel einer solchen Einrichtung ist es, Minderjährigen und jungen Volljährigen dabei zu helfen, ein selbstständiges und eigenverantwortliches Leben führen zu können.

„Bitte Licht ausmachen“ steht auf Persisch über jedem Schalter. „Zu oft vergessen sie, das Licht auszumachen“, sagt Pinar Inal. Sie ist die Leiterin der Einrichtung zur Verselbstständigung von „Türkise Biographien“, einem interkulturellen Kinder- und Jugendhilfeträger mit Sitz in Neuss. Tür­kise Biographien besteht seit 2009 und hat ambulante und stationäre Einrichtungen in vier verschiedenen Städten in Nordrhein-Westfalen.


Motivierte Jugendliche

Pinar Inal ist von Anfang an dabei. Zunächst lag der Fokus nur auf türkischen Kindern und Jugendlichen, inzwischen betreuen sie Familien und Kinder in 16 Sprachen. „Alle reden von Migrationshintergrund – uns geht es um Biographien“, sagt Inal. Es geht um die Biographien jener Kinder und Jugendlichen, die dazukommen, und jener Erwachsenen, die mit ihnen arbeiten. Omar ist eine dieser vielen Biographien.

„Er ist sehr motiviert, Deutsch zu lernen. Wenn wir zusammen auf der Straße unterwegs sind, dann fragt er mich: Wie heißt Lkw auf Deutsch? Wie heißt Ampel? Straße? Er fragt mich nach der Farbe der Autos, der Ampel. Er sagt es auf Englisch, ich auf Deutsch. Und so bringen wir uns gegenseitig Sprachen bei – er mir Englisch, ich ihm Deutsch“, sagt Pinar Inal.

Die Sozialpädagogin hat langjährige Erfahrung mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Seit dem denkwürdigen Satz „Wir schaffen das“ von Bundeskanz­lerin Angela Merkel Ende 2015 hat sich vieles verändert. Mitte September hatte die deutsche Regierung entschieden, die Flüchtlinge aufzunehmen, die in Ungarn am Bahnhof gestrandet waren. Über die sogenannte Balkanroute kamen hunderttausende Menschen vor allem aus Syrien nach Deutschland und wurden von vielen Menschen willkommen geheißen und bejubelt.

„Damals waren die Einrichtungen überfüllt, wir mussten teilweise sogar in Absprache mit dem Jugendamt Plätze kurz­zeitig überbelegen“, berichtet Inal. Mitt­lerweile seien die Zahlen wieder zurückgegangen. „Die Anfragen sind nicht mehr so enorm viel.“ Ihr Eindruck deckt sich mit den offiziellen Zahlen: 2015 haben 22 255 unbegleitete Minderjährige einen Asylerstantrag eingereicht. 2016 waren es 35 939. In der ersten Jahreshälfte des vergangenen Jahres waren es gerade noch 5702. Ein deutlicher Rückgang.

Derzeit leben fünf Jugendliche in der Verselbstständigungseinrichtung in Dormagen: vier aus Afghanistan und Omar aus Sierra Leone. Der Älteste ist 18 Jahre; der Jüngste, Omar, ist 16. Sie werden täglich sieben Stunden betreut, sieben Tage die Woche. „Wir gehen mit ihnen gemeinsam einkaufen. Sie müssen lernen, auf die Prei­se zu gucken und nicht einfach irgendeine Milch zu nehmen. Wir besprechen die festen Lernzeiten, erstellen den Essens- und Putzplan zusammen. Ich bin überrascht, wie aufgeräumt ihre Zimmer sind. Das hätte ich bei fünf Jugendlichen gar nicht gedacht“, sagt Inal.

Am Montag war Omar mit Kochen dran. Er hat Jollof-Reis gekocht. Auf die Frage, was das sei und welche Zutaten da hineinkommen, reagiert er erstaunt: Das sei ein typisches westafrikanisches Essen, sehr bekannt. Er zählt die Zutaten auf Englisch auf. „Hähnchen, Reis, Tomaten und die roten langen ...” Das Wort fällt ihm nicht ein, und so sprintet er zur Küche und bringt rote Paprika aus dem Kühlschrank. „Es soll ziemlich gut geschmeckt haben, denn am nächsten Tag war der Topf leer“, erklärt Pinar Inal.

Die vier afghanischen Jugendlichen, die mit Omar in der Einrichtung leben, besuchen „Fit für mehr“. Das ist eine staatliche Maßnahme, die sich an 16- bis 25-jährige Neuzugewanderte richtet. Auf dem Berufs­kolleg werden sie bis zu einem Jahr lang sprachlich, mathematisch, kulturell und politisch-gesellschaftlich für ihren weiteren Bildungsweg vorbereitet. Nach Abschluss dieser Maßnahme können die Jugendlichen auf eine normale Schule gehen und dort den regulären Abschluss machen oder sich auf einen Ausbildungsplatz bewerben. Omar wird ab nächster Woche das Berufskolleg besuchen. Die Aufregung ist groß. Die Hoffnungen auch.


Rechte und Pflichten

„Die Jugendlichen kommen mit großen Erwartungen und Vorstellungen zu uns“, sagt Pinar Inal. „Einige kommen im Glauben zu uns, dass der Staat alles finanzieren muss, dass sie viele Rechte haben und weniger Pflichten“, sagt Inal. Auch beim Thema Ausbildung gebe es viel Aufklärungsbedarf. „Wir erklären ihnen, dass es ohne Abschluss schwer ist, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Sie wollen alle arbeiten, und das ist gut so, aber davor gehört die Schule“, sagt die Sozialpädagogin.

Über das Leben in Deutschland werden viele falsche Informationen ver­breitet. Es entsteht ein verzerrtes Bild über die Rechte und Pflichten in einem Sozialstaat, eine Vorstellung, die sich vom Hörensagen und über die sozialen Medien in den vergangenen Jahren verbreitet und verfestigt hat.

Omar hat keine großen Ansprüche. Er fühlt sich in der WG wohl, sagt er. „Frau Inal und die anderen Betreuer sind jetzt meine Familie.“ Heute ist er alleine im Haus, die anderen sind Karnevalskostüme kaufen. „Ich werde nicht Karneval feiern, es ist draußen zu kalt für mich“, sagt Omar. Sein Körper ist noch nicht an die örtlichen Temperaturen gewöhnt. Draußen sind es minus 3 Grad; seine Haut ist ganz trocken. Pinar Inal sucht nach einer Creme in der Haus­apotheke.

Die Sozialpädagogin findet es gut, dass Kindern und Jugendlichen die Türen geöffnet werden und geholfen wird. „Ich finde, die finanzielle Unterstützung, die sie bekommen, ist sehr großzügig, auch wenn es in den Augen einiger immer noch zu wenig sein mag.“ Sie denkt aber auch, dass noch genauer hingeschaut werden müsste, wer tatsächlich Hilfe braucht und wer nicht – vor allem bei Frauen und Kindern.

Jugendliche, die die Sprache können und gesellschaftlich angekommen sind, soll­ten nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden, fordert Inal. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass einige Jugendliche, die volljährig geworden sind, zurückgeschickt wurden. Es kommt nicht oft vor, aber wir hatten solche Fälle“, bedauert sie. „Sobald die Jugendlichen eine Ablehnung bekommen, werden sie panisch.“ Die Phase zwischen dem Widerspruch und der endgültigen Ablehnung sei sehr schwierig für sie. „Es ist eine unsichere Zeit, sie haben dann keine Lust auf Schule, lassen alles liegen, es ist nur ein Abwarten, nichts macht mehr Sinn für sie“, sagt sie. Auch für die Betreuer sei diese Situation frustrierend. Man habe den Jugendlichen beraten, begleitet und dann werde er abgeschoben.


Verschärftes Gesetz

Die neuen Gesetze machen eine solche Abschiebung sogar leichter. Am 29. Juli 2017 trat in Deutschland das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ in Kraft. Mit dem Gesetz wurde unter ande­rem der Abschiebungsgewahrsam und die Verbleibspflicht in Aufnahmeeinrichtungen ausgeweitet sowie das Auslesen von Handydaten von Asylsuchenden ermöglicht. 2016 wurden insgesamt 25 375 Menschen abgeschoben, die meisten stammten aus den Balkanstaaten Albanien, Kosovo, Serbien und Mazedonien. 2016 wurden aber auch afghanische, irakische und syrische Staats­angehörige aus Deutschland abgeschoben oder in andere EU-Staaten nach der soge­nannten Dublin-Verordnung „überstellt“. Diese besagt, dass ein Flüchtling in dem Staat um Asyl bitten muss, in dem er den EU-Raum erstmals betreten hat.

Drei der fünf Jugendlichen in Dormagen haben eine Ablehnung ihres Asyl­antrags bekommen und Widerspruch eingelegt. Einer von ihnen sei unruhig, perspektivlos, depressiv. Omar steht zunächst einmal das Clearing bevor – das sind mehrere Gespräche, bei denen unter anderem festgestellt wird, welche medizinische oder psychologische Behandlung der Jugendliche benötigt. Nachdem der Asylantrag eingereicht wird, beginnt das Warten – bis zu einem Jahr kann es dauern. Omar bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen – und Deutsch zu lernen.


Rayna Breuer ist Journalistin und lebt in Köln.

Link
Interkultureller Kinder- und Jugendhilfeträger „Türkise Biographien“:
http://www.tuerkise-biographien.de/