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Viehhirten

Traditionelle Erziehung

Bei den Santals, einem Adivasi-Volk in Ostindien und Bangladesch, lernen Kinder und Jugendliche als Viehhirten die Werte und Regeln ihrer Gemeinschaft. Schulbildung wird allerdings immer wichtiger – und die Tierhaltung immer schwieriger.
„Wir sind  nicht allein.“ Boro Baski „Wir sind nicht allein.“

Herden sind im ländlichen Indien eine Alltagserscheinung. Arme, ungebildete Bauern halten ein paar Tiere, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern, und nomadische Stämme hängen ganz von ihrem Vieh ab. Die Herdenwirtschaft ist aber weniger profitabel als kommerzielle Tierhaltung, und Weideland wird knapp. Immer mehr Flächen werden als Felder bebaut, illegal von Industrieunternehmen beansprucht oder unter Naturschutz gestellt.

Es ist zu befürchten, dass die Herden in nicht allzu ferner Zukunft verschwinden. Das hätte weitreichende kulturelle Folgen. In unserer Santal-Tradition lernen Kinder und Jugendliche als Viehhirten die Regeln des harmonischen Zusammenlebens. Früher waren alle Santals in ihrem Leben eine Zeit lang Hirten. In vielen Santal-Dörfern ist das heute noch so.


Verantwortung von Kindern

Arme Familien, die selbst keine Rinder haben, schicken ihre Kinder zu wohlhabenderen Familien. Dafür, dass sie sich um deren Tiere kümmern, bekommen sie ein paar Beutel Reis, eine tägliche Mahlzeit und jährlich einen Satz Kleidung. Diese Art von Kinderarbeit praktizieren wir seit Jahrhunderten. Sie gilt auch heute nicht als Gesetzesbruch, obwohl Kinderarbeit verboten ist. Der Staat erkennt aber an, dass unser Brauch allen Beteiligten nützt.

Die jüngsten Hirten sind fünf oder sechs Jahre alt. Anfangs sind sie dafür verantwortlich, Ziegen weiden zu lassen und sie zur Tränke zu bringen. Außerdem sollen sie Ziegenkitze vor den Dorfhunden schützen.

Im Alter von neun oder zehn schließen sich die Kinder der Gruppe der älteren Hirten an. Sie bringen die Rinder jeden Morgen zur gleichen Zeit auf die Weiden und müssen den älteren Gruppenmitgliedern Folge leisten. Mehr als hundert Rinder bilden eine Herde. Es gibt viele Regeln.

Die meisten Hirten sind Kinder und Jugendliche, aber ein paar Dorfsenioren gehören auch dazu. Die drei Untergruppen haben unterschiedlichen Pflichten. Die Jugendlichen leiten normalerweise die Alltagsaktivitäten. Relevant sind das Sammeln von Früchten und Honig, das Fangen von Fischen, Vögeln, Schnecken, Krebsen und Schlangen sowie das Jagen von Hasen, Füchsen, Ratten und Mäusen. Die Kinder bleiben beim Vieh und achten darauf, dass die Kühe nicht auf die Felder vordringen. Die Alten sitzen meistens im Schatten eines Baumes und sind erreichbar, falls der Nachwuchs Rat oder Hilfe braucht.

Die Alten singen aber auch, spielen Flöte und erzählen Geschichten. Sie berichten der jungen Generation von früher. Abends, bevor alle ins Dorf zurückkehren, wird die Beute der Jugendlichen geröstet und geteilt.

Wenn die Kinder um die 15 Jahre alt sind, beginnt eine neue Lebensphase. Die männlichen Jugendlichen gehen dann mit den Männern zur Feldarbeit, reparieren Hütten und machen Körbe, Karren und Musikinstrumente. Die weiblichen Jugendlichen sammeln mit ihren Müttern und Schwestern Feuerholz, Früchte und Gemüse. Nach ihrer Hochzeit gründen die Jugendlichen dann ihre eigenen Familien.


Meine Jugend

In meiner Kindheit gab es für unser Dorf noch keine Schule. Wir hatten auch keine Uhr. Der Stand der Sonne und die Jahreszeiten bestimmten den Takt unseres Lebens. Meine Generation hat beim Viehhüten sehr viel gelernt – die Namen von Tieren und Vögeln, ihre Geräusche und Stimmen, ihre Brutzeit und so weiter. Uns wurde Teamarbeit beigebracht, und wir entwickelten ein Gespür für Demokratie und Geschlechter-Gleichberechtigung. Wir erlebten Freundschaft.

Ältere Jugendliche brachten uns bei, im Teich zu schwimmen und auf Bäume zu klettern. Wir lernten nicht nur, Flöten und traditionelle Saiteninstrumente zu spielen, sondern auch, sie aus Naturstoffen herzustellen. Wir lebten fröhlich in den Tag hinein und waren stolz darauf, das traditionelle Santal-Wissen fortzuführen.

Mir war das aber nur kurze Zeit vergönnt. Ein Onkel überzeugte meine Familie davon, mich auf eine Missionarsschule in der Nähe von Kalkutta zu schicken. Ich wollte dort nicht hin. Ich weinte und schrie. Ich versteckte mich sogar einen Tag lang im Wald. Aber schließlich musste ich doch aus unserem Dorf weg. Mein Onkel bestand darauf, ich dürfe gar nicht zurück kommen, damit ich nicht „für immer“ ein Santal bliebe.

Als ich nach zehn Jahren schließlich nach Hause kam, war ich ein Fremder geworden. Ich spreche Santali mit einem merkwürdigen Akzent. Andererseits hatte ich mich an elektrischen Strom, Toiletten und Spiele, die drinnen gespielt werden, gewöhnt. Mir war die Bedeutung von Hygiene klar geworden – und die von Uhren.


Schulbildung

Mittlerweile sorgt der Staat dafür, dass es Schulen für Santal-Dörfer gibt. Eltern stehen unter wachsenden Druck, ihre Kinder dorthin zu schicken. Sie haben die Wahl zwischen unbekümmerter traditioneller Erziehung und Schulbildung. Weil die Unterrichtssprache Bengali ist, die unsere Kinder nicht sprechen, ist der Schulalltag für viele anfangs ziemlich hart. Mein Dorf ist privilegiert, weil wir dank deutscher Spendengelder eine eigene Schule mit modernen pädagogischen Methoden betreiben können (siehe hierzu meinen Aufsatz in E+Z/D+C, 2009/7–8, S. 280 ff.). Viele Eltern finden Schulbildung mittlerweile wichtig. Basanti Mardi ist eine Santal-Frau, die selbst als Hirtin aufgewachsen ist und nur bis zur vierten Klasse in die Schule ging. Das hat ihr gut getan. „Wenn ich auf den Markt gehe, kann ich die Schilder lesen und mein Geld zählen“, sagt sie. „Wenn es nötig wäre, könnte ich auch in der Stadt Arbeit finden.“ Sie hat ihre beiden Kinder zur Schule geschickt, und ihr Sohn studiert jetzt sogar an der Universität. „Bildung ist Fortschritt“, sagt sie.

Das sieht auch Sundar Hembrom, ein akademisch gebildeter Santal, so. Er ist Ingenieur und Schriftsteller. Santals könnten heute Grundbedürfnisse nicht mehr mit Herdenhaltung befriedigen, sagt er. Viele Santals sind weiterhin sehr arm, und besonders im abgelegenen ländlichen Raum haben sie kaum Bildungs- oder Berufschancen (siehe mein Aufsatz in E+Z/D+C 2013/06, S. 241 ff).

Es ist für Santals weiterhin sehr schwer, ökonomisch auf die Beine zu kommen. Herden bringen uns heute für den Lebensunterhalt wenig – und das wird sich nicht ändern. Wir wollen aber unsere Kultur und unsere Tradition nicht aufgeben. Ganz auf Herden zu verzichten, würde unsere Identität und unser Gemeinschaftsverständnis beeinträchtigen.

 

Boro Baski ist Lehrer und Sozialarbeiter bei der Selbsthilfe-Organisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha in Westbengalen. Er hat als Erster aus seinem Dorf ein Hochschulstudium abgeschlossen und danach auch noch einen Doktortitel in Sozialarbeit erworben. Die Selbsthilfeorganisation wird vom deutschen Verein Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati unterstützt.
borobaski@gmail.com

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