Unsere Sicht

Erinnerung schützt

Der Ende Dezember verstorbene südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu war ein wichtiger Geistlicher und ein bedeutender Kämpfer für die Menschenrechte. Ein beliebtes Zitat von ihm besagt, dass, wer angesichts von Unrecht neutral bleibt, sich auf die Seite der Unterdrückenden schlägt. Der Seelsorger wusste auch, dass grausame Brutalität möglicherweise vergeben werden kann, aber nicht vergessen werden darf.
Auf vielen Bürgersteigen erinnern glänzende Stolpersteine an von Nazis verschleppte und ermordete Deutsche jüdischer Abstammung. picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild / Bodo SchackowPicture Alliance Auf vielen Bürgersteigen erinnern glänzende Stolpersteine an von Nazis verschleppte und ermordete Deutsche jüdischer Abstammung.

Der anglikanische Pastor half die Apartheid zu überwinden und leitete später die Wahrheits- und Versöhnungskommission Südafrikas. Darüber, in welchem Maß Versöhnung gelungen ist, lässt sich angesichts der anhaltend großen Probleme des Landes streiten (siehe Beitrag von Jakkie Cilliers auf www.dandc.eu). Klar ist jedoch, dass die Kommission dazu beigetragen hat, ein realistisches und weithin geteiltes Verständnis von den Auswirkungen rassistischer Unterdrückung zu schaffen. Ohne solch ein Narrativ wären weder Versöhnung noch eine gemeinsame demokratische Zukunft überhaupt möglich.

Deprimierenderweise nehmen Versuche, die historische Wahrheit zu vertuschen, in vielen Ländern zu. Wichtige Beispiele sind China, Russland und die USA.

Kurz vor Weihnachten begannen Behörden in Hongkong, das Gedenken an das Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 zu unterbinden. Seinerzeit hatten junge Menschen sich im Zentrum der chinesischen Hauptstadt mit einem Protestlager für Demokratie eingesetzt. Das Regime ließ die Armee den Platz räumen und die politische Bewegung in Blut ertränken. In den vergangenen drei Jahren hat die Kommunistische Partei nun auch Demokratiebestrebungen in Hongkong unterbunden. Nun will sie ihre Sicht der Geschichte auch dort durchsetzen.

In Russland wurde kurz nach Weihnachten die Menschenrechtsorganisation Memorial gerichtlich verboten. Zu deren selbst gewählten Aufgaben gehörte die Dokumentation der Schrecken totalitärer Herrschaft. Staatliche Stellen warfen Memorial Formfehler wie die ungenügende Angabe von internationalen Geldzuwendungen in Publikationen vor, bezichtigten die Initiative aber auch des Extremismus. In Wirklichkeit darf Memorial aber nicht weiterarbeiten, weil Präsident Wladimir Putins nationalistische Propaganda zunehmend die russische Geschichte verherrlicht, und die historische Wahrheit nicht ins Bild passt.

Im Gegensatz zu China oder Russland steht in den USA die demokratische Legitimität von Präsident Joe Biden nicht in Zweifel. Er versucht auch nicht, historisches Wissen zu unterdrücken. Leider passiert das aber auf der Ebene verschiedener Bundesstaaten, wo die republikanische Partei politische Ämter missbraucht, um Bücher über die Geschichte der Sklaverei aus Lehrplänen und Schulbüchereien zu entfernen. Behauptet wird, weiße Kinder und Jugendliche müssten vor Schuldgefühlen und Seelenpein geschützt werden. Paradoxerweise werfen dieselben Personen Hochschulen ein inakzeptable Ausgrenzungspolitik vor, wenn sie Verschwörungstheoretikern und Lügnern keinen Raum geben. Das Schlagwort dafür lautet „Cancel Culture“. Es ist natürlich kein Zufall, dass dieselben rechtspopulistischen Kräfte auch wissenschaftliche Erkenntnisse über die Klimakrise bestreiten – nicht aber die große Lüge Donald Trumps, ihm sei die Wahl gestohlen worden.

Ernsthaft umstritten ist die faktische Wahrheit in keinem dieser Fälle. Das Grundmuster ist, dass heute Macht ausübende Menschen sich auf die Seite Unterdrückender der Vergangenheit schlagen.

Aus deutscher Sicht sind solche Entwicklungen deprimierend. Wir kennen unsere traumatische Geschichte von Völkermord und zwei Diktaturen im 20. Jahrhundert. Persönliche Schuld für die Verbrechen früherer Generationen empfinden die meisten von uns kaum, aber wir nehmen den Auftrag ernst, derlei nie wieder geschehen zu lassen. Dafür ist Erinnerungskultur wichtig (siehe Beitrag von Quentin Peel auf www.dandc.eu).

Auf vielen deutschen Bürgersteigen erinnern glänzende Stolpersteine an die von den Nazis verschleppte und ermordete jüdische Minderheit. In Berlin ist die Holocaust-Gedächtnisstätte Topographie des Schreckens eine beliebte Attraktion, aber sie ist nur eins von vielen Mahnmalen. Grundsätzlich besteht Konsens, dass die Zukunft unserer Demokratie die Kenntnis der historischen Wahrheit erfordert. Wer diese unterdrücken will, will letztlich Menschen unterdrücken.


Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit / D+C Development and Cooperation.
euz.editor@dandc.eu