Pharmaforschung
Zusätzliche Verwendung
Ein neues Medikament zu entwickeln dauert rund 15 Jahre und kostet mindestens eine Milliarde Dollar. Die Medikamentenentwicklung verläuft in fünf Schritten:
- Entdeckung des Präparats,
- präklinische Testung,
- klinische Testung in drei Phasen,
- Zulassung durch eine internationale Aufsichtsbehörde wie die US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) oder die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und
- Überwachung der Sicherheit nach der Markteinführung.
Durch Umwidmung können bis zu sieben Jahre Zeit und hunderte Millionen Dollar eingespart werden. Der erste Schritt wird komplett übersprungen. Gesundheitssysteme können von der Umwidmung generischer Medikamente profitieren. Denn sie sind nicht durch geistige Eigentumsrechte geschützt und somit deutlich günstiger. Zudem gibt es in vielen Entwicklungsländern Produktionsstätten für Generika, was sie von Importen unabhängiger macht.
Aspirin ist das Paradebeispiel für eine solche Umwidmung. Ursprünglich war es Ende des 19. Jahrhunderts vom deutschen Pharmaunternehmen Bayer als Medikament gegen Schmerzen und Fieber zugelassen.
Später wurde aber Aspirin für viele andere Indikationen umgewidmet, darunter Blutgerinnsel, manche Krebsarten sowie Entzündungen wie rheumatoide Arthritis. Der Wirkstoff von Aspirin is Acetylsalicylsäure. Er kann aus Pflanzen gewonnen werden und wurde seit Jahrtausenden von verschiedenen Kulturen in der traditionellen Medizin verwendet.
Branchenbeobachter warnen jedoch, Umwidmungsregulierungen gut auszuarbeiten, damit die Unternehmen keine übermäßigen Gewinne daraus erzielen. Andererseits profitieren spezialisierte Pharmaunternehmen, die sich auf innovative patentgeschützte Medikamente spezialisiert haben, wenn sie durch Umwidmung Markenprodukte für mehr als eine Anwendung verkaufen können.
Covid-19
Das neue Coronavirus hat zur schlimmsten Pandemie der Menschheitsgeschichte seit der Spanischen Grippe vor hundert Jahren geführt. In absoluten Zahlen ist die Corona-Pandemie sogar die schlimmste der Geschichte überhaupt. Bis zum 7. Mai 2021 wurden weltweit fast 160 Millionen Infektionen gezählt. Natürlich spiegeln diese Zahlen auch wider, dass die Weltbevölkerung auf inzwischen fast 7,8 Milliarden Menschen angewachsen ist – mindestens viermal mehr als zu Zeiten der Spanischen Grippe.
Bisher gibt es kein spezifisches Mittel gegen Covid-19, daher weckt die Umwidmung von Medikamenten Hoffnung. Etwa zwei Dutzend bereits existierender Medikamente werden derzeit als potenzielles Mittel gegen Covid-19 getestet. Für das Malaria-Mittel Hydroxychloroquine wurden bereits 321 Studien abgeschlossen und dokumentiert. Die entsprechenden Zahlen sind 85 für das antibakterielle Mittel Azithrmomicin, 52 für Favipiravir und 23 für Remdesivir – beides antivirale Mittel. Viele andere Medikamente wurden ebenfalls getestet. Bislang ist keines vollständig für die Covid-Behandlung zugelassen.
Dennoch hat die FDA eine Zulassung erteilt, Covid-19-Patienten unter bestimmten Umständen mit Remdesivir zu behandeln. Dieses Mittel heilt die Krankheit nicht, reduziert aber erwiesenermaßen die Dauer von Aufenthalten in Kliniken und auf Intensivstationen und die Notwendigkeit, Beatmungsgeräte einzusetzen. Es hat somit einen Wert im Sinne einer Notversorgung. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält Remdesivir allerdings für nicht wirkungsvoll und warnt davor, das Mittel zu nutzen. Dennoch ist es gefragt – nicht zuletzt angesichts der aktuellen Corona-Welle in Indien.
Das Pharmaunternehmen Gilead Sciences hat Remdesivir ursprünglich zur Behandlung von Hepatitis C entwickelt. Später wurde es zur Ebola-Behandlung eingesetzt. Wirtschaftlich ist das Mittel durch die Umwidmung zu einem sehr viel wertvolleren Pharma-Produkt geworden. Laut Financial Times sind die Verkaufszahlen von Gilead im dritten Quartal 2020 um zwei Milliarden Dollar gestiegen. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, einen sehr hohen Preis zu verlangen – mehr als 3000 Dollar pro Behandlung. Es gibt jedoch an, das Mittel großzügig an Entwicklungsländer zu vergeben und diesen Produktionslizenzen zu gewähren. Derweil wird weiter diskutiert, wie wirksam das Mittel ist.
Vor der Covid-19-bezogenen Zulassung war Remdesivir ein Arzneimittel für seltene Krankheiten (orphan drug) und somit wirtschaftlich wenig attraktiv. In gewissem Umfang subventionieren die Industrienationen die Entwicklung von orphan drugs, wenn sie als notwendig erachtet werden.
Natürlich erfüllen sich nicht alle Hoffnungen. Als die Corona-Pandemie begann, glaubten viele auch an den Nutzen von Hydroxychloroquine. Berühmtester Befürworter war wohl der damalige US-Präsident Donald Trump, der zeitweilig alles daransetzte, Remdesivir in seinem Land zu horten. Gesundheitssysteme vieler Länder nutzten Hydroxychloroquine – bis die WHO es als nutzlos oder sogar gefährlich erklärte.
Fraglich bleibt, inwieweit Covid-19-Patienten dennoch weiterhin Hydroxychloroquine erhalten, was offenbar in diversen afrikanischen Ländern und vermutlich auch andernorts der Fall ist. Der Grund ist, dass Ärzte gerne Medikamente verschreiben, die sie für hilfreich halten. Regierungsempfehlungen und selbst Vorschriften werden vielerorts nicht stringent umgesetzt, besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Manche Antibiotika werden obsolet
Falsche Medikamentennutzung oder Überdosierung ist verheerend – nicht nur für den Einzelnen. Der wahllose Einsatz antimikrobieller Arzneien ohne entsprechende Indikation verschärft ein weiteres immenses Gesundheitsproblem: Durch das Auftreten antibiotikaresistenter Stämme werden immer mehr wichtige Medikamente wirkungslos.
Heute sind die gefährlichsten Stämme gegen mindestens ein Antibiotikum resistent. Laut der WHO konnten 2018 fünf Prozent der Tuberkulose-Patienten nicht mit herkömmlichen TB-Medikamenten behandelt werden (siehe Roli Mahajan im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2020/03). Multiresistenzen sind auch bei Krebspatienten besorgniserregend. Eine weitere Herausforderung ist, dass Moskitos gegen Insektizide resistent werden mit der Folge, dass sich Malaria weiter ausbreitet.
Der – oft unnötige – Einsatz von Antibiotika bei Covid-19 wird die Nutzung der Arznei erhöhen, was wiederum das Auftreten von antimikrobiell resistenten (AMR) Stämmen wahrscheinlicher macht. Je häufiger ein antimikrobielles Medikament eingesetzt wird, desto eher treten resistente Stämme auf.
Ein Dauerthema, und besonders in Entwicklungsländern weit verbreitet, ist der unangemessene Einsatz von Medikamenten – etwa die Gabe des falschen Antibiotikums, Abbruch einer Behandlung, ehe der Patient geheilt ist, und Verunreinigung in den Produktionsstätten. Auch durch übermäßigen Einsatz von Antibiotika in der industriellen Tierhaltung in Industrienationen entwickeln sich immer mehr AMR-Stämme.
Neue antimikrobielle Medikamente sollten daher sparsam eingesetzt werden, damit ihre Heilkraft nicht schwindet. Das ist natürlich kontra-intuitiv; Ärzte setzen gerne Medikamente ein, die besonders gut wirken, und Patenthalter wollen den Umsatz maximieren, ehe Generika hergestellt werden.
Endloses Wettrennen
Die wissenschaftlich fundierte Gesundheitsversorgung ist gewissermaßen in einen nie endenden Wettlauf involviert. Die Herausforderung besteht darin, schneller wirksame Behandlungen zu finden, als es Mutationen gelingt, etablierte Behandlungsansätze hinfällig zu machen. Hier kann sich Arzneimittel-Umwidmung tatsächlich als hilfreich erweisen. Angesichts einer wachsenden Zahl an arzneimittelresistenten Krankheitsvarianten wächst das Interesse an Umwidmung seit geraumer Zeit – schon bevor Covid-19 den Trend beschleunigte.
2020 startete die Trump-Regierung das Repurposed Generic Development Program in den USA, um das Testen in der präklinischen Phase, in klinischen Studien und in der Marktzulassung zu finanzieren und zu koordinieren. Man geht davon aus, dass die Umwidmung eines Medikaments etwa 200 Millionen Dollar kostet. Derzeit laufen Studien zu zwei generischen Mitteln. Sollte das Erfolge zeigen, wird dies das Interesse an Umwidmung weiter anfeuern.
Eine akademische Studie kritisiert, dass EU-Institutionen und Mitgliedregierungen das Potenzial von Umwidmung bisher nicht genug beachten. Pharmaunternehmen haben jetzt aber Interesse daran – auch in Indien, das in den vergangenen Jahrzehnten zur globalen Drehschreibe der Pharmaproduktion geworden ist. Die Pharmaindustrie war von Anfang an international ausgerichtet – Covid 19 hat das Interesse an ausländischen Märkten weiter verstärkt.
Krupali Patel ist Doktorandin am Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF).
pkrups78@gmail.com