Ernährungssicherung

Doppelte Last der Fehlernährung

Hunger steht im Fokus der Aufmerksamkeit. Fehl- und Unterernährung sind aber ebenso ernste Probleme mit Langzeitwirkung, wie Susan Walker von der University of the West Indies Sheila Mysorekar in einem Interview erklärt.
Mädchen in Jamaika. Sean Sprague/Lineair Mädchen in Jamaika.

Was sind die Unterschiede zwischen Hunger, Fehlernährung und Unter­ernährung?

  • Der Begriff „Hunger“ bezeichnet in der Regel kurzfristigen Mangel an Nahrung. Er beschreibt, dass man keinen Zugang zu ausreichend Essen hat oder es nicht kaufen kann und deswegen tagelang nicht genug Nahrung zu sich nehmen kann. Hunger betrifft nicht nur Entwicklungsländer, sondern kann auch bei armen Familien in hoch entwickelten Ländern vorkommen.
  • „Unterernährung“ bedeutet, dass Kinder nicht wachsen, wie sie sollten, weil sie nicht ausreichend Nahrung bekommen. Wir sprechen von „Gedeihstörung“, wenn Kinder zu klein für ihr Alter sind, und „Auszehrung“, wenn ihr Gewicht zu niedrig für ihre Größe ist. Schwere Auszehrung kann im Krankenhaus behandelt werden sowie in Gesundheitszentren mit therapeutischer Fertignahrung (Ready-to-use therapeutic foods – RUTF). Diese Art von Unterernährung findet man oft bei Hungersnöten oder anderen Krisensituationen.
  • „Fehlernährung“ heißt schlechte Ernährung, was nicht nur zu wenig Essen bedeutet, sondern auch zu viel Essen oder Nahrung von schlechter Qualität. Deswegen ist Übergewicht bei Kindern ebenfalls eine Folge von Fehlernährung.


Gedeihstörungen werden oft als ­Indikator von Armut betrachtet.
Ja, und mit gutem Grund. Dies reflektiert die Gesamtheit der physischen Existenz eines Kindes von der Schwangerschaft durch die frühe Kindheit. Wachstumsstörungen sind viel häufiger als Auszehrung und betreffen ungefähr eines von vier Kindern unter fünf Jahren in armen Ländern und Staaten mit mittlerem Einkommen. Es ist auch ein Anzeichen von Ungleichheit. Gesellschaften mit größerer Ungleichheit haben viel gravierendere Unterschiede in dem Grad der Gedeihstörung als Gesellschaften mit weniger Ungleichheit.

Welche sind die häufigsten Konsequenzen von Unterernährung bei Kindern, und was sind die lang­fristigen Folgen?
Unterernährung erhöht die Kindersterblichkeit durch Infektionen wie Durchfall- und Atemwegserkrankungen. Schwere akute Fehlernährung kann ebenfalls eine direkte Todesursache sein. Unterernährung beeinträchtigt nicht nur die physische Entwicklung von Kindern. Wachstumsgestörte Kinder haben schlechtere Lernfähigkeit; viele sind apathisch und zeigen andere Verhaltensstörungen. Mehrere Langzeitstudien beweisen, dass diese Folgen bis in das Erwachsenenleben andauern und zu niedrigeren IQs, schlechterer Ausbildung und häufigeren psychischen Problemen führen. Wenn Frauen nicht ausreichend Nahrung vor und während der Schwangerschaft bekommen, ist es wahrscheinlicher, dass ihre Kinder untergewichtig geboren werden und ein größeres Risiko von Gedeihstörung besteht – inklusive mentaler Folgen.

Was genau ist Mangel an „Spuren­elementen“, und warum sind diese so wichtig für den Körper?
Spurenelemente-Mangel sagt etwas über die Qualität der Nahrung aus. Sie enthält nicht genügend Vitamine und Mineralien. Ein solcher Mangel kann auch vorkommen, wenn Kinder ausreichend zu essen haben, aber von schlechter Qualität. Die wichtigsten Spurenelemente für die Gesundheit und Entwicklung von kleinen Kindern sind Vitamin A, Eisen, Zink und Jod. Sie sind entscheidend dafür, dass Kinder Infektionen abwehren, normal wachsen und lernen können.

Was sind die häufigsten Gründe für Fehlernährung und Unterernährung?
Global gesehen ist der häufigste Grund für Unterernährung die unzureichende Kost für Babys und Kleinkinder. Dies kann daran liegen, dass die Familie einfach nicht genug zu essen hat. Ein weiterer Grund liegt darin, dass Mütter ihre Kinder in den ersten sechs Lebensmonaten nicht ausschließlich stillen, und weil Babys und Kleinkinder andere Nahrung bekommen, die ihnen nicht genug Energie und Nährstoffe liefert. Ein anderer wichtiger Grund sind Infektionen wie Durchfall. In Jamaika liegen die Haupt­gründe für Unterernährung bei schlechter Kost für Babys und Kleinkinder. Infektionen sind nicht mehr so häufig.

Ein jüngst erschienener UNICEF-­Report erwähnt ein „Fenster von 1000 Tagen“ als Schlüssel zum ­Problem der Fehlernährung. Warum sind diese 1000 Tage so wichtig?
Sie umfassen die neun Monate Schwangerschaft und die ersten beiden Lebensjahre. Dies ist der Zeitraum, wo Ernährung den stärksten Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes hat. Das Gehirn entwickelt sich in dieser Phase sehr rasch. Wir wissen auch, dass Nahrung und Entwicklung in der frühen Kindheit langfristige Konsequenzen für die Gesundheit nach sich ziehen, etwa ein höheres Risiko für chronische Krankheiten im Erwachsenenleben wie zum Beispiel Bluthochdruck oder Diabetes. Diese chronischen Krankheiten breiten sich in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen immer weiter aus. Viele dieser Staaten stehen vor der „doppelten Last der Fehlernährung“, wie wir es nennen. Sie haben wachsende Probleme mit Übergewicht und daraus folgenden Krankheiten, aber gleichzeitig leidet eine große Zahl an Kindern an Unterernährung.

Welche Konsequenzen hat Unter­ernährung für eine Gesellschaft?
Unterernährung bei Kindern wirkt sich bis ins Erwachsenenalter aus. Sie sind später weniger gebildet als ausreichend versorgte Kinder, verdienen im Schnitt weniger und sind weniger in der Lage, für ihren eigenen Nachwuchs zu sorgen. Wenn viele Kinder in einem Land unterernährt sind, beeinträchtigt dies die nationale Entwicklung. Frauen, die als Kinder unterernährt waren, haben in der Regel untergewichtige Neugeborene.

Was kann man dagegen tun?
Folgende Maßnahmen sind entscheidend, um gute Ernährung und Entwicklung zu fördern:

  • Förderung des ausschließlichen Stillens in den ersten sechs Lebensmonaten. Dies umfasst Unterstützung der Mütter wie beispielsweise Beratung und Mutterschaftsurlaub.
  • Aufnahme einer besseren Aufbaunahrung und einer abwechslungsreichen Kost. Dies kann durch Ernährungsberatung für Eltern und auch durch Bereitstellung von Nahrung für arme Haushalte gewährleistet werden.
  • In Jamaika konzentriert man sich auf die Früherkennung von Wachstumsstörungen, wenn Kinder zu Routinebesuchen in die Gesundheitszentren kommen. Die Entwicklung des Kindes wird mit einer Wachstumstabelle verglichen. Wenn es unter dem Soll liegt, wird die Mutter beraten und gebeten, eine spezielle Ernährungsklinik aufzusuchen. Dort bekommt sie weitere Ernährungsberatung für ihr Kind und wenn nötig auch Aufbaunahrung. Dieser Ansatz erreicht die Kinder, bevor ernste Wachstumsverzögerungen vorliegen. Es funktioniert allerdings am besten in Ländern, in denen es ein gutes Netz an Gesundheitszentren in den Gemeinden gibt, zu denen die meisten Kinder Zugang haben.


Geht es darum, den Kindern einfach mehr und bessere Nahrung zu geben?
Nicht nur. Es ist wichtig, Ernährung in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Es gibt wichtige Faktoren, die diese beeinflussen. Dazu gehört:

  • Zugang und Vorhandensein von bezahlbarem Essen,
  • Fürsorge innerhalb der Familie,
  • Ausbildung und Stärkung von Frauen,
  • Trinkwasserversorgung und sanitäre Anlagen,
  • Zugang zu medizinischer Versorgung und Impfungen.  


Ernährung ist ein wichtiges Grundbedürfnis von Kindern. Die Kleinen brauchen aber auch eine fürsorgliche Umgebung mit guten Lernmöglichkeiten.

Bitte erläutern Sie den sektorübergreifenden Ansatz des Home Visiting Stimulation Programme in Jamaika.
Wir bilden Gemeindegesundheitspersonal aus, um den Müttern zu helfen, auf die Entwicklung ihres Kindes zu achten. Diese Gesundheitsfachkräfte besuchen die Familie wöchentlich oder mindestens alle 14 Tage und führen eine Spielstunde mit Mutter und Kind durch. Dadurch wird die Mutter ermutigt, mehr mit ihren Kindern zu sprechen und sich weiter mit ihnen zu beschäftigen. Wir haben gezeigt, dass dieses Programm langfristig positive Auswirkungen hat: Sind die beteiligten Kinder erwachsen, haben sie im Schnitt eine bessere Bildung, eine bessere psychische Verfassung und ein höheres Einkommen. Ähnliche Programme sind in Bangladesch und Kolumbien eingeführt worden, und die Regierung von Peru investiert augenblicklich viel in die Früherziehung von kleinen Kindern.

Wie beurteilen Sie die beiden ­Programme, die UNICEF unterstützt und in ihrem letzten Bericht ­erwähnt, SUN (Scaling Up Nutrition) und REACH (Renewed Efforts Against Child Hunger and Malnutrition)?
Dies sind wichtige Initiativen, um die Zahl der Ernährungsprogramme und anderer Maßnahmen zu erhöhen. Zudem werden dabei auch andere Fragen aufgeworfen wie der Aufbau einer eigenen Kompetenz im Land, um Ernährung positiv zu beeinflussen, und diese fachgebietsübergreifend zu koordinieren.


Susan Walker ist Professorin für Ernährungswissen­schaften an dem Forschungsinstitut für Tropische Medizin an der Universität
der West Indies in Jamaika.
susan.walker@uwimona.edu.jm