Spracherwerb

Vernachlässigte Sprachförderung in deutschen Kitas

Inklusion und Bildungserfolg hängen maßgeblich vom Spracherwerb ab. In vielen Kitas in Deutschland spielt Sprachförderung aber noch eine untergeordnete Rolle. Das trifft vor allem Kinder mit Migrationsgeschichte.
Sprachförderung in der Kita St. Fronleichnam in Aachen. Leon Kirschgens Sprachförderung in der Kita St. Fronleichnam in Aachen.

Kinder haben das Recht auf Bildung und freie Entfaltung. Wenn sie frühzeitig lernen, eine Sprache gut zu sprechen, eröffnet ihnen das Chancen für ihr weiteres Leben. Im deutschen Kitaalltag, geprägt von einem Mangel an Kitaplätzen und Fachkräften, bleibt Erzieher*innen aber oft nur Zeit für das Nötigste. Gezielte Sprachförderung existiert zwar, kommt aber zu selten vor.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert seit 2016 die sprachliche Bildung in zuletzt 6000 sogenannten Sprach-Kitas, also in jeder zehnten deutschen Kita. Das Programm soll allen Kindern zugutekommen, insbesondere aber solchen mit nichtdeutscher Familiensprache und aus bildungsbenachteiligten Familien. Finanziert werden zum einen Fachkräfte, die in den Kitas arbeiten; zum anderen externe fachliche Beratung und Fortbildung.

Eine dieser Sprach-Kitas ist die Kita St. Fronleichnam in Aachen. Laut ihrem Leiter Martin de Lange sprechen 90 Prozent der Kinder Deutsch nicht als Muttersprache. Um ihnen die Sprache näherzubringen, sprechen Erzieher*innen mit ihnen bei alltäglichen Routinen, etwa beim Spielen, Essen oder Toben im Garten. Sie kommunizieren auch mit Gestik und Mimik und ermutigen die Kinder durch offene Fragen, im Dialog ihre Gedanken in Worte zu fassen. „Nur dann gelingt es Kindern, ihre Sprache als bedeutsam zu erfahren“, sagt Gabriele Grobusch, die als Fachberaterin in Aachen Sprach-Kitas betreut.

Bund stellt Förderung für das Programm „Sprach-Kitas“ ein

Trotz des hohen Personalbedarfs könnten manche Sprach-Fachkräfte ihre Kitas allerdings bald verlassen. Denn bis jetzt ist für viele ungewiss, ob ihr Vertrag verlängert wird. Im Juni 2023 lief die Förderung des Bundes aus, seitdem sind die Länder verantwortlich. Zwar haben alle Länder die Förderung bis Ende dieses Jahres übernommen, doch ist längst nicht überall klar, wie es 2024 weitergeht. Das trifft auch die Kita von Martin de Lange: Das zuständige Bundesland Nordrhein-Westfalen hat zwar angekündigt, das Programm auch 2024 weiterführen zu wollen, allerdings Stand Mitte November noch keine offizielle Förderzusage gegeben.

Das Aus der Förderung auf Bundesebene stößt auch aus einem weiteren Grund auf Kritik. „Es sendet ein fatales Signal, dass ausgerechnet ein Förderprogramm beendet wird, das im Unterschied zu vielen anderen Ansätzen so wirksam ist“, sagt Grobusch. „Es scheint nicht durchzudringen, wie sehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe von den ersten Jahren in den Krippen und der Kita abhängen und welchen fundamentalen Einfluss Sprache darauf hat.“

Chancenungerechtigkeit in deutschen Kitas 

Am größten sind die Nachteile für Kinder mit schwierigen Ausgangsbedingungen. Sie stammen oft aus Familien mit geringer Bildung und wenig Geld. Häufig spielt eine Migrationsgeschichte eine Rolle. Das Umfeld dieser Kinder kann oft nicht dabei helfen, ihren sprachlichen Rückstand auszugleichen.

Hinter dieser Chancenungerechtigkeit stehe eine noch grundlegendere Schwäche der frühkindlichen Betreuung in Deutschland, argumentiert Grobusch. Es werde nicht ernst genug genommen, dass Kitas einen eigenen Bildungsauftrag haben und die Bildungs- und Entwicklungsprozesse der Kinder individuell unterstützen sollen. „Es geht darum, Neugier zu wecken. Und zwar vor der Einschulung“, sagt Grobusch. „Dabei ist Sprache der Schlüssel, ohne sie geht es nicht. Nur mit ihr können Kinder stabile soziale Bindungen aufbauen, sich als selbstwirksam erfahren und Kompetenzen entwickeln.“

Wohin Sprachdefizite führen können, zeigt der IQB-Bildungstrend 2022, eine Studie zu Fähigkeiten von Schüler*innen in Deutschland. Demnach schnitten Kinder mit Migrationsgeschichte in der 9. Klasse im Fach Deutsch durchschnittlich schlechter ab als solche ohne. Das gilt insbesondere für Kinder der ersten Generation, die im Ausland geboren und nach Deutschland zugewandert sind. Die Autor*innen führen dies auf das Sprachdefizit der Kinder zurück, das teilweise mit dem Bildungshintergund und der Häufigkeit zusammenhänge, mit der in Familien Deutsch gesprochen werde.

Positive Entwicklungen in der Sprachförderung

Bei aller Kritik hat für Grobusch in den vergangenen Jahren in Deutschland dennoch ein positiver Sinneswandel stattgefunden. Mehrsprachigkeit werde heute zunehmend als Chance für Kinder wahrgenommen und gefördert. „Lange wurde die fremde Muttersprache als Hindernis betrachtet in der Sorge, beide Sprachen zu sprechen, aber keine so richtig“, sagt Grobusch. Heute bestärke sie Eltern darin, zu Hause jene Sprache zu sprechen, in der sie sich sicher fühlen – meist ist dies die Muttersprache. „Nur so können sie den Kindern ein reichhaltiges Sprachangebot machen. Die Kinder erfahren Wertschätzung gegenüber der Familiensprache und so Kompetenzen in beiden Sprachen“, erklärt sie.

Manche Eltern melden ihr Kind gar nicht erst in der Kita an, obwohl es in Deutschland seit zehn Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Platz in Kita oder Tagespflege ab dem vollendeten ersten Lebensjahr gibt. Sei es, weil sie Vorbehalte gegenüber dem deutschen Kitasystem hegen, es nicht der Kultur ihres Heimatlandes entspricht oder der Kitabeitrag eine finanzielle Hürde ist. „Ein beitragsfreies Jahr wäre ein hoher Anreiz insbesondere für Familien, für die der Kitabeitrag mit darüber entscheidet, ihr Kind überhaupt in die Kita zu schicken“, sagt Diemut Kucharz, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt. Würden im zweiten Jahr Gebühren anfallen, könnten die Eltern ihr Kind immer noch herausnehmen. „Dann aber ist die Hürde deutlich höher – insbesondere, wenn sich im ersten Jahr abzeichnet, wie sinnvoll der Kitabesuch sowohl für die Eltern als auch das Kind ist“, sagt Kucharz.

Zudem können Programme helfen, in denen Kinder auch außerhalb der Kita in ihrem gesamten Alltag sprachlich gefördert werden, vor allem zu Hause. Im sogenannten Rucksack-Projekt werden etwa Eltern mit Migrationsgeschichte in mehreren Monaten zu „Stadtteileltern“ ausgebildet, die wiederum andere Eltern dazu anleiten, wie sie ihre Kinder mehrsprachig erziehen und in der Familiensprache gemeinsam singen, lesen und spielen können. In der Kita behandeln die Erzieher*innen auf Deutsch dann dieselben Themen wie die Eltern in ihrer Familiensprache zu Hause.

Kitaleiter Martin de Lange hofft, dass Sprachförderung und Inklusion sich in Deutschland weiter verbessern. „Noch gehören wir nur zu einem kleinen Teil aller Kitas, die eine Sprachfachkraft haben und Sprachförderung in den Mittelpunkt stellen können“, sagt er. „Dabei ist es für uns als Gesellschaft so elementar, dass Förderungen dieser Art zum Standard für alle Kitas gleichermaßen werden sollten.“

Leon Kirschgens ist freier Journalist und lebt in Aachen.
leon@kirschgens.de