Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Armutsbekämpfung

Zusätzliche Arbeitsplätze bedeuten zusätzliche Einkommen

Stefan Dercon von der Universität Oxford erklärt, weshalb Länder mit niedrigem Einkommen für ihre Entwicklung Wachstum brauchen und unter welchen Bedingungen dieses Wachstum zustande kommt.
„Viele niedrige Löhne können einen großen Unterschied machen": Bekleidungsproduktion in Bangladesch. picture alliance / ZUMAPRESS.com / Joy Saha „Viele niedrige Löhne können einen großen Unterschied machen": Bekleidungsproduktion in Bangladesch.

Ist Wachstum für die Entwicklung von Ländern mit niedrigen Einkommen unabdingbar?

Wo das monatliche Einkommen pro Kopf nur 100 Dollar oder so beträgt, lässt sich Armut nicht durch Umverteilung beenden. Selbst wenn alle diese 100 Dollar hätten, wären sie immer noch arm, und ohne Wirtschaftswachstum bleibt das auch so. Wo das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Person so niedrig ist, lassen sich auch nicht genug Steuern für Regierungstätigkeit eintreiben. Infrastrukturen aller Art hängen von staatlichen Ausgaben ab, ob es nun um harte Infrastruktur wie Straßen und Stromnetze oder um soziale Infrastruktur wie Bildung, Gesundheitsversorgung oder Rechtswesen geht. Entsprechend gibt es auch kein einziges Beispiel eines Landes, das ohne starkes Wachstum der Armut entkommen wäre. Erfolgreiche Beispiele mit Wachstum gibt es aber – besonders, aber nicht nur in Asien.

Regierungen von Ländern mit hohen Einkommen scheinen aber auch von Wachstum besessen.

Das hat einen anderen Grund. Wenn der Kuchen wächst, lässt sich davon leicht etwas umverteilen, weil niemandem etwas genommen wird. Ohne Wachstum ist Umverteilung aber ein Nullsummenspiel. Wenn jemand etwas dazubekommt, bekommt jemand anderes weniger. Deshalb ist Wachstum politisch für Deutschland oder das britische Königreich hilfreich, obwohl es nicht die zentrale Bedeutung hat wie in Ländern mit niedrigen Einkommen.

Vertiefte höheres BIP nicht auch immer soziale Kluften?

Nein, das kommt vor, aber in anderen Fällen schloss sich die Schere zwischen Arm und Reich auch ein Stück weit. Wo Wachstum vor allem auf Rohstoffausbeutung beruht, profitieren nur wenige, weshalb Öl- und ähnliche Ausfuhren oft kaum zur Armutsbekämpfung beitragen. Dagegen hat Wachstum regelmäßig die Armut – und manchmal sogar die Ungleichheit – reduziert, wo sich Exportstrategien auf arbeitsintensive Industriezweige stützten. Das schafft zusätzliche Arbeitsplätze, die wiederum zusätzliche Einkommen schaffen.

Aber sind die Löhne – etwa in der Textilindustrie – nicht unakzeptabel gering?

In den Augen westlicher Beobachter sind sie in der Tat schockierend niedrig – und zwar besonders anfangs, wenn die Industrialisierung beginnt. Dennoch verändern viele niedrige Löhne das Leben all der Menschen, die sie bekommen, und im zweiten Schritt dann auch die Gesellschaft, in der sie leben. Typischerweise steigt der Lebensstandard, wenn Regierungen diese Art von Politik betreiben. Das gilt besonders, wenn sie die zusätzlichen Steuereinnahmen für den bereits erwähnten Ausbau von Infrastruktur verwenden.

Ist das eine Formel, um Entwicklungen in Gang zu setzen?

Ich würde es vorsichtiger formulieren: Es gab von den frühen 1990er-Jahren bis ungefähr 2015 solch eine Formel, solange das Welthandelssystem die entsprechenden Chancen bot. Leider ist die Lage sehr viel schwieriger geworden. Die Bedeutung der Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) erodiert. Hoch entwickelte Volkswirtschaften setzen zunehmend auf Zölle. Das Problem wird sich mit der Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident verschärfen, aber er ist nicht allein verantwortlich. Präsident Joe Biden hat mit Zöllen Wirtschaftszweige vor der chinesischen Konkurrenz geschützt, und die EU begründet Zölle zunehmend mit Umweltargumenten.

Aber wir brauchen doch ökologisch verträgliches, grünes Wachstum, oder?

Für Länder mit hohen Einkommen gilt das unbedingt. Wir müssen jedoch mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist heuchlerisch, von ärmeren Volkswirtschaften zu verlangen, dass sie unerprobte Konzepte umsetzen. Selbstverständlich ist erneuerbare Energie dort sinnvoll, wo Bedingungen wie Sonne und Wind stimmen. Aber wir haben noch kein Exempel eines voll funktionstüchtigen Energiesystems ohne fossilen Treibstoff. Die Klimakrise haben Länder mit hohen Einkommen verursacht, und wir müssen jetzt vorangehen, anstatt die Entwicklung ärmerer Weltgegenden mit Maximalforderungen, die wir selbst nicht erfüllen, zu blockieren. 

Was ist mit großen Schwellenländern wie China oder Indien?

Deren Lage ist anders. Sie haben generell starke Kapazitäten. Folglich haben sie auch Möglichkeiten, aus fossiler Energie auszusteigen. Tatsächlich investieren sowohl China als auch Indien massiv in Erneuerbare. Für das globale Gemeinwohl wäre es allerdings gut, sie täten noch mehr, um auf fossile Energie – und besonders Kohle – zu verzichten. Indien ist allerdings weiterhin ärmer als China, also sollten wir an China höhere Ansprüche stellen. Beide Länder sind übrigens gute Beispiele dafür, dass Wachstum Entwicklungsergebnisse gebracht hat. In beiden Fällen war die internationale Fachwelt überrascht, als das losging. Das war auch bei anderen erfolgreichen Ländern so. 

Was ist nötig, damit diese Art von Wachstum einsetzt? 

Es erfordert Mut. Das typische Muster dort, wo Wachstum die Lebensqualität gesteigert hat, ist, dass sich mächtige Interessengruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einen Wachstumspakt geeinigt haben. In sehr vielen Ländern ist das nie passiert. Für privilegierte Kreise ist diese Strategie nämlich riskant. Ihnen geht es gut, also dient ihnen der Status quo, und Wandel könnte das ändern. Wenn neue Industriezweige entstehen, verändert sich schließlich auch das Gleichgewicht der Kräfte. Außerdem entwickeln die Menschen, wenn sie mehr verdienen, ihre Erwartungen und Ansprüche. Deshalb ist es für Eliten immer riskant, sich auf das zu einigen, was ich einen Development Bargain nenne. 

Warum gehen sie das Risiko trotzdem manchmal ein?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Am wichtigsten ist vermutlich, dass Wachstum und höhere Lebensqualität einem politischen System Legitimität verleihen. Tatsächlich ist solch ein Wachstums- und Entwicklungspakt oft das Resultat einer Krise, wenn Angehörige der Eliten begriffen haben, dass es einfach nicht so weitergehen kann wie bisher. Zugleich sehen sie oft, dass sie selbst von den neuen Chancen besonders profitieren können. Sie haben schließlich das Kapital, um in neue Industrieunternehmen zu investieren.

Nennen Sie bitte ein Beispiel. 

Bangladesch ist ein interessanter Fall. Das Land wurde 1971 unabhängig, und in den Jahren danach galt es als hoffnungslos. Im Team von Henry Kissinger, dem damaligen nationalen Sicherheitsberater der USA, wurde es bekanntlich als „Basket Case“ bezeichnet. Diese Einschätzung war ebenso verbreitet wie falsch. Im Land selbst wollten einflussreiche Gruppen die Lage verbessern. Trotz Korruption und politischen Wirren setzte sich der Development Bargain durch. Staatliche Institutionen arbeiteten eng mit der Zivilgesellschaft zusammen, so dass unabhängige Organisationen großen Einfluss gewinnen konnten. Die Textilindustrie ist sehr stark geworden, aber andere Branchen wachsen auch heran. Was wichtige Entwicklungsindikatoren wie Alphabetisierung, Lebenserwartung oder Müttersterblichkeit angeht, übertrifft Bangladesch mittlerweile die meisten anderen Länder in Südasien. Die Menschen erwarten heute auch mehr von ihrem Staat, wie Premierministerin Sheikh Hasina Wajed im Sommer selbst erlebte, als ein Volksaufstand sie stürzte

Ist Demokratie eine Voraussetzung für Wachstumserfolg?

Nein, nicht unbedingt. China unterliegt autoritärer Herrschaft, hat aber dennoch einen sehr erfolgreichen Development Bargain erlebt. Nach der bitteren Armut und der Stagnation unter Mao Zedong führte Deng Xiaoping die Kommunistische Partei in den 1980ern auf einen ganz anderen Pfad. Der Erfolg beruhte dabei nicht einfach auf Dengs Kommando, denn die Parteiführung bewertete Erfolg und Misserfolg von politischen Maßnahmen anhand objektiver Daten. Im Lichte solcher Informationen änderte sie auch ihre Politik. Dem Diktator wurde nicht einfach nur erzählt, was er hören wollte. Evidenzbasierte Politik veränderte das Land, und schon ein Jahrzehnt später protestierten Studierende auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Parteispitze unterdrückte das hart, weil sie bei Wachstums- und Entwicklungsexperimenten nicht gestört werden wollte. Was Bürgerrechte angeht, ist Chinas Kommunistische Partei ein Albtraum. Was massenhafte Armutsbekämpfung angeht, ist sie in historisch beispielloser Weise erfolgreich. 

Sehen Sie eine bestimmte Rolle für Geberländer? 

Sie können dort, wo es keinen Wachstumspakt gibt, Entwicklung nicht in Gang setzen. Ohne nationale Eigenverantwortung gibt es keine Entwicklung. Wo der nötige Elitenkonsens besteht, sollten Geberinstitutionen jedoch die Politik unterstützen. Dabei ist nur wenig Monitoring und Evaluierung nötig, denn ihre Mittel werden meist sinnvoll verwendet werden. Mit Geberfinanzierung haben Länder wie Vietnam, Ghana, Äthiopien oder Indonesien gute Fortschritte gemacht. Wo es aber keinen Development Bargain gibt, wird Gebergeld nicht viel bewirken. Das sehen wir leider allzu oft. Am Ende des vergangenen Jahrzehnts waren beispielsweise Nigeria, die Demokratische Republik Kongo und Pakistan die drei Länder, denen die Weltbank die größten konzessionellen Darlehen gab. Alle drei sind von einem echten Wachstumspakt aber weit entfernt.

Was hätten die Weltbank-Angestellten anders machen sollen?

Geberinstitutionen sollten sich generell mehr darum bemühen, die politische Ökonomie der Länder, mit denen sie kooperieren wollen, besser zu verstehen. Bislang wollen sie, wenn sie irgendwo von einem Finanzminister oder einer Finanzministerin einen guten Eindruck haben, Dinge unterstützen, die dieses Individuum vorschlägt. Wenn diese Ideen einem nationalen Entwicklungspakt entsprechen, wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit funktionieren. Aber wo das nicht der Fall ist, wird die Zusammenarbeit mit dieser Person eher keine nachhaltigen Ergebnisse bringen. 

Literatur
Dercon, S., 2022: Gambling on development – Why some countries win and others lose. London, Hurst. 

Stefan Dercon ist VWL-Professor an der Universität Oxford.
stefan.dercon@economics.ox.ac.uk