Formative years
Prägende Jahre
Die typische indische Mittelschichtsfamilie ist klein. Beide Eltern arbeiten, und die Kinder verbringen einen Großteil der Zeit mit ihren Großeltern, mit Angestellten oder in Betreuungseinrichtungen.
„Die frühen Jahre gehören zu den härtesten“, sagt Aarti Chibber, die eine Kindertagesstätte in Delhi leitet. Die Kinder kommen typischerweise mit etwa 18 Monaten zu ihr und bleiben bis zum Schuleintritt mit fünf Jahren. Nicht allen Eltern ist wohl dabei. Eine Mutter, deren dreijährige Tochter Chibbers Einrichtung besucht, gibt zu: „Ich habe Schuldgefühle. Abends versuchen mein Mann und ich, die verpasste Zeit mit ihr wettzumachen. Aber manchmal geben wir ihren Wünschen einfach nach, weil wir schlicht zu müde sind.“ Die Mutter arbeitet bis zu 11 Stunden am Tag in einer Werbeagentur. Ihr Familie brauche das Geld, sagt sie, nicht zuletzt, um in die Zukunft ihrer Tochter zu investieren.
Inderinnen bekommen im Schnitt nur noch 2,2 Kinder. Allerdings gibt es soziale Unterschiede: Frauen aus den einkommensärmsten Schichten bekommen 3,2 Kinder, während es in den reichsten nur 1,5 sind.
„Woher soll man die Ressourcen nehmen – Zeit, Geld, Energie –, um heutzutage mehr als ein Kind großzuziehen?“, fragt Ritu Singh, Designerin und Mutter eines Kindes. So wie sie denken einer Umfrage zufolge die meisten berufstätigen Mütter von Einzelkindern. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die berufliche Belastung und die Kosten, die Kinder mit sich bringen, viele Mütter davon abhalten, die Familie nach dem ersten Kind weiter zu vergrößern.
Sonalde Desai, Wissenschaftlerin an der University of Maryland, hält das für eine vernünftige Entscheidung. Viele Frauen wollen einen guten Job, und ein gutes Einkommen ermöglicht ihnen, mehr Geld für die Bildung ihrer Kinder auszugeben. Sie können dann eher eine Privatschule besuchen, in der das Niveau höher ist.
Dennoch bilden Ein-Kind-Familien in Indien weiterhin die Ausnahme. Die meisten Mittelschichtseltern wünschen sich zwei Kinder, am liebsten einen Jungen und ein Mädchen. „Heutzutage, wo man noch nicht einmal seine Nachbarn kennt, ist ein Geschwisterkind gut gegen Langeweile und Einsamkeit“, sagt Divya Gupta, die zwei Kinder hat und zu Hause eine kleine Bäckerei betreibt.
Typisch für Mittelschichtseltern sind ein voller Zeitplan, ständige Hektik und das Bedürfnis, die Defizite durch Konsum auszugleichen. Ihre Kinder wachsen mit elektronischen Geräten auf, essen unterwegs mit Freunden und bewegen sich nur wenig. Viele bekommen Nachhilfe, denn der Druck, gute Noten nach Hause zu bringen, ist groß. So plagen die Kinder zwei Probleme: Übergewicht und Schulstress. Sie sind zwar sicherlich in vielerlei Hinsicht privilegiert, das heißt aber nicht, dass ihr Leben einfach wäre.
Laut einer im New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie sind 14,4 Millionen indische Kinder übergewichtig. Ärzte machen dafür vor allem die ständige Verfügbarkeit kalorienhaltigen Essens verantwortlich. Aber der Lebensstil und fehlende Bewegung an der frischen Luft spielen ebenfalls eine Rolle. Auch wegen der Hitze und Luftverschmutzung (siehe meinen Kommentar in E+Z/D+C e-Paper 2018/04, S. 12) halten sich Mittelschichtskinder meistens in klimatisierten Räumen auf. Wenn sie nicht lernen müssen, schauen sie fern, spielen Videospiele und beschäftigen sich mit ihren Smartphones.
Es gibt nicht genügend gute Schulen für Indiens riesige Bevölkerung. Mittelschichtskinder werden in der Regel von klein auf zu guten Leistungen in der Schule angehalten. Die Eltern wollen, dass es ihre Sprösslinge im Leben zu etwas bringen, und sie wissen genau, dass Bildung dafür der Schlüssel ist. Vor allem in den höheren Klassen, deren Noten für die Hochschulzulassungen ausschlaggebend sind, lastet hoher Druck von Seiten der Eltern auf den Kindern.
Wenn sie versagen, sehen manche Schüler nur noch den Selbstmord als Ausweg. Der offiziellen Statistik zufolge tötet sich jede Stunde ein Schüler oder eine Schülerin in Indien selbst. Auch die Selbstmordrate für junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren ist eine der höchsten der Welt. Rund ein Drittel aller Selbsttötungen in Indien fallen in diese Altersgruppe.
Roli Mahajan ist freie Journalistin in Delhi.
roli.mahajan@gmail.com