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Kommentar

Unvollendete Revolutionen

Als E+Z/D+C in Druck ging, tobte in Tripolis der Straßenkampf. Ägypten und Tunesien bereiten derweil freie Wahlen vor, aber die Revolu­tionäre dort sind ob der langsamen Veränderungen ernüchtert.


Von Ronald Meinardus

Anfangs herrschte Euphorie in der arabischen Welt. Fast wie Kartenhäuser fielen die Diktaturen in Tunesien und Ägypten den Volksaufständen zum Opfer. Als der revolutionäre Bazillus auf andere arabische Länder übersprang, hofften manche Beobachter auf schnellen Wandel in der ganzen Region.

Ein halbes Jahr später herrscht Katerstimmung in Ägypten. Wer schnelle Resultate wie einen demokratischen Musterstaat oder gar Wohlstand sofort erwartet hatte, ist enttäuscht. „Wir müssen vier bis fünf Jahre warten, um zu wissen, ob die Revolution erfolgreich war“, mahnt der ägyptische Journalist Salama Ahmed Salama. Doch Geduld ist keine revolutionäre Tugend – schon gar nicht, wenn junge Revolutionäre keinen Job haben und endlich eine Lebensperspektive wollen.

In Ägypten ist das Gefühl verbreitet, die unvollendete Revolution komme kaum noch voran. Es gibt zwar neue politische Spielräume, aber noch keine verbindlichen Spielregeln – und darauf kommt es an. Kräfte des ancien regime mischen in Staat und Gesellschaft weiter kräftig mit. Zunächst freuten sich alle Ägypter, dass die Armee die Revolution schützte – heute herrscht bei vielen Entsetzen über ihre Menschenrechtsverletzungen.

Dennoch erleben die Menschen hier – positiv formuliert – die Geburtsstunde einer demokratischen Ordnung. Bald werden ihre Stimmen in Wahlen zählen und über die Zukunft entscheiden. Dies ist ­außergewöhnlich in der arabischen Welt. Andere Länder, wo Proteste später begannen als in Ägypten und Tunesien, sind davon noch weit entfernt.

Grob lassen sich die arabischen Länder in vier Kategorien einteilen. Es gibt
– die postrevolutionären Transitionsrepu­bliken Tunesien und Ägypten, in denen Wahlen den Ausschlag für die weitere Entwicklung geben werden,
– Diktaturen im Bürgerkrieg oder kurz davor, wie Libyen und Syrien,
– konservative bis reaktionäre Monarchien, die – angeführt von Saudi Arabien und den Golfstaaten – zunehmend den Schulterschluss mit den vorsichtig reformbereiten Königshäusern in Marokko und Jordanien suchen, und
– Länder, die zu failed states werden oder es bereits sind – namentlich der Jemen und Somalia.

Auch die übrigen arabischen Länder sind keine Oasen der Stabilität. Libanon, Palästina, Sudan und Irak haben gewaltige eigene Probleme.

In den Transitionsrepubliken geht es jetzt um die Modalitäten des Übergangs. Die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Wahlen sind wie ein politischer Kulturkampf: Auf der einen Seite stehen säkular orientierte Kräfte, auf der anderen Verfechter einer religiös geprägten Politik. Sicherlich werden islamistische Kräfte in beiden Ländern an Einfluss gewinnen. Es ist höchste Zeit, dass der Westen sein Verhältnis zu Gruppen wie den Muslimbrüdern neu definiert. Verglichen mit den ebenfalls erstarkenden Salafisten und Jihadisten – wesentlich radikaleren Fundamentalisten – sind die Brüder moderat.

Für das Gedeihen des politischen Islam sind nicht die Revolutionäre verantwortlich. Die Verursacher sind die früheren Machthaber, die einerseits selbst die gesellschaftliche Islamisierung mit vorantrieben, andererseits aber mit Repression die Heroisierung aller islamistischen Kräfte bewirkten.

Für Arabiens Autokraten bleiben die erfolgreichen Volksaufstände ein Fanal. Damit ihnen nicht dasselbe Schicksal widerfährt wie Ben Ali, Mubarak und nun Gaddafi, setzen herrschende Cliquen in Syrien, Bahrein und Jemen auf teils kaum vorstellbare Brutalität. Für die Menschen dort ist die Euphorie des arabischen Frühlings verflogen. Je länger die Gewalt andauert, desto größer wird die Hypothek für die politische Zukunft. Die Opposition weiß aber auch, dass es kein Zurück gibt, denn die Rache der Diktatoren wird schrecklich sein, sollten sie sich an der Macht halten.

Die Meldungen aus Tripolis wirkten auf die Opposition in anderen arabischen Ländern zunächst ermutigend. Es ist aber allen bewusst, dass der Übergang zur Demokratie in Libyen noch schwieriger wird als in Tunesien und Ägypten. Derweil richtet sich die Aufmerksamkeit noch stärker auf Syrien, wo die Bevölkerung ohne NATO-Unterstützung aufbegehrt. Eine politische Lösung ist dort nicht in Sicht – wieder droht ein blutiges Ende.

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