Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Interview

„Starke Orientierung nach Europa“

Wenige Wochen nach seiner friedlichen Revolution ist Tunesien nicht nur mit dem strukturellen Neuaufbau beschäftigt, sondern auch mit den Auswirkungen der Unruhen im Nachbarland Libyen. An die 150 000 Flüchtlinge hat das Land temporär aufgenommen. Ralf Melzer, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis, hat Eleonore von Bothmer im Interview am 21. März 2011 die Lage erläutert.

Interview mit Ralf Melzer

Gibt es jetzt in Tunesien ein neues Gefühl von Ownership?
Ja, die Revolution hat den Menschen gezeigt, dass sie etwas bewegen können. In wenigen Wochen haben sie eines der als am stabilsten geltenden Regime der Region abgeschüttelt. Das war wirklich eine Bewegung von unten, nicht von Parteien oder Personen gesteuert. Das hat das Selbstbewusstsein der ganzen Gesellschaft und insbesondere der jüngeren Generation gestärkt. Der Wunsch nach Partizipation ist deutlich zu spüren – und damit auch das Gefühl von Ownership.

Sie haben seit Jahren Kontakt zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Finden diese jetzt mehr Gehör?
Ja, sie werden jetzt unmittelbar in politische Prozesse einbezogen und nicht mehr von der eigenen Regierung stigmatisiert und kriminalisiert. Früher waren alle mit oppositionell-kritischem Profil in ihren Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt. Jetzt sind sie Teil von Kommissionen, Gremien und internationaler Entwicklungskooperation. Sie sind nicht mehr nur Kritiker, sie bringen sich aktiv in Gestaltung ein.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Beispiel ist der Conseil de l’Instance Supérieure pour la Réalisation des Objectifs de la Révolution, der sich am 17. März konstituiert hat. Er erarbeitet unter anderem Vorschläge für ein neues Wahlrecht und eine neue Verfassung. Er wird von fast allen Gruppierungen der Gesellschaft getragen und geht über die Expertenkommissionen hinaus, die sich unmittelbar nach den Umbrüchen gebildet haben. Mit dabei sind unter anderem die tunesische Menschenrechtsliga – ein langjähriger Partner der Friedrich-Ebert-Stiftung – und andere unabhängige Organisationen. Früher wurden sie gegängelt, jetzt gestalten sie die neue gesellschaftliche Ordnung mit. Das ist famos und zeigt, was sich verändert hat. Aber natürlich muss man immer noch ein bisschen aufpassen: Der Reformprozess ist auf einem guten Weg, aber es gibt auch immer noch Widersacher.

Was ist vom alten Regime noch übrig? Auch Premier Ghannouchi musste gehen.
Politische Machtstrukturen des Ancien Régime, die noch Kontrolle ausüben, existieren nicht mehr, wohl aber alte Netzwerke und Seilschaften. Es gab aber auch in den Reihen des alten Apparates reformwillige Kräfte. Und eine gewisse Kontinuität und Expertise ist in Administration und Wirtschaft auch nötig. Insgesamt muss individuell aufgearbeitet werden, wer sich etwas hat zu Schulden kommen lassen, und das muss natürlich geahndet werden. Aber es kommt auch darauf an, möglichst niemanden, der an einem neuen Tunesien mitbauen und sich in ein pluralistisches System integrieren will, auszugrenzen. Ohne Brücken ins alte Establishment wird der Demokratisierungsprozess kaum gelingen.

Kann man schon von einer Revolution sprechen, oder doch eher von mehreren Regierungswechseln?
Ich würde schon von einer Revolution sprechen. Eine Bewegung von unten hat den Präsidenten, der über alle Machtmittel verfügte, weggefegt, und die – inzwischen aufgelöste – Regierungspartei RCD gleich mit. Politische Entscheidungen werden jetzt zunehmend von dem neu konstituierten Conseil getroffen und ab dem 24. Juli dann von der verfassungsgebenden Versammlung.

Wie kommt Tunesien mit den Flüchtlingsströmen aus Libyen zurecht?
Das ist eine große Belastung – allein schon für den Arbeitsmarkt. Rund 50 000 tunesische Arbeiter sind aus Libyen zurück gekommen. In der Grenzregion müssen zudem Flüchtlinge versorgt werden. Die internationale Hilfe ist aber endlich angelaufen. Der UNHCR ist präsent, die WHO, die EU. Mehrere Länder, besonders China und Thailand, organisieren den Rücktransport ihrer Arbeitsmigranten. 140 000 bis 150 000 Menschen sind bislang aus Libyen vorübergehend nach Tunesien geflohen. Die Solidarität, die die Tunesier trotz ihrer eigenen Probleme gezeigt haben, war bemerkenswert. Die Leute sind in die Lager gegangen und haben den Flüchtlingen Essen und Kleidung gebracht. Der Kontrast zum großen, reichen Europa, das angesichts von 5000 Flüchtlingen in Lampedusa in Panik gerät, ist beklemmend. Die Tunesier stecken diese Belastung erstaunlich gut weg.

Was bedeuten die Entwicklungen in Libyen darüber hinaus?
Libyen ist ein wichtiger Handelspartner, außerdem sind in den letzten Jahren viele Libyer als Touristen oder auch für medizinische Behandlungen nach Tunesien gekommen. Aber es ist zu früh, etwas über die sozialen und ökonomischen Folgen zu sagen. Was jetzt die Menschen bewegt, ist die Frage, ob Gaddafi es schafft, sich mit Militärgewalt an der Macht zu halten. Wenn er es schafft, könnte das auch Tunesien destabilisieren. Die Tunesier empfinden großes Mitgefühl und Solidarität mit den Libyern, aber sie haben auch Angst. Als kürzlich der libysche Botschafter in Tunis zur Opposition übergelaufen ist, hat das hier große Freude ausgelöst.

Wie stehen zivilgesellschaftliche Organisationen zur internationalen Diskussion über No-Fly Zones und dergleichen?
Es bestehen Informationsdefizite und ein Gefühl von Hilf- und Ratlosigkeit. Im Augenblick wollen alle vor allem, dass die Metzelei aufhört. Niemand wünscht sich wirklich ein andauerndes militärisches Szenario, andererseits wird von der internationalen Gemeinschaft – einschließlich der Afrikanischen Union und der Arabischen Liga – schon erwartet, dass sie sich positioniert und dass die Menschen notfalls auch militärisch vor den Angriffen Gaddafis geschützt werden. Klar ist auch, dass man mit Gaddafi nicht einfach so weiter machen kann, als sei nichts geschehen.

Wie bewerten die Tunesier die EU?
Da gibt es verschiedene Ebenen. Emotional hätte man sich in der revolutionären Phase mehr Unterstützung gewünscht. Und es gibt den Vorwurf – auch nicht ganz zu unrecht –, dass Europa und vor allem Frankreich ökonomisch motiviert eine zu große Nähe zu dem alten Regime gehalten haben. Dennoch gibt es eine starke Orientierung nach Europa. Die Menschen spüren wohlwollende, europäische Hilfsbereitschaft. Insgesamt wird das alles in Grautönen wahrgenommen, nicht schwarz-weiß. Europa hat an sich einen guten Ruf als Partner und wird gebraucht. Die Tunesier wünschen sich Anerkennung, Wertschätzung, Dialog auf Augenhöhe und das Signal, dass es mit ihrem Land nach dem Neubeginn künftig noch mehr Zusammenarbeit geben wird.

Kommen denn schon wieder Touristen?
Ja, es gibt Touristen, aber weniger als sonst. Vermutlich wird es in der Hauptsaison massive Einbrüche geben. Dabei wäre es für politisch bewusste Menschen gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, hierher zu kommen. Diese Gesellschaft hat einen beeindruckenden Freiheitswillen gezeigt und ihn in breitem Protest mit weitgehend friedlichen Mitteln durchgesetzt. Es wäre falsch, sie jetzt durch Wegbleiben zu bestrafen. Am Fremdenverkehr hängen 300 000 Arbeitsplätze, von denen möglichst viele erhalten werden müssen. Gefährdungen bei Urlaubsreisen zu den üblichen Zielen sind nicht erkennbar.

Die Fragen stellte Eleonore von Bothmer

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