Interview

Identitätsfragen zurückstellen

In Syrien trotzt eine mutige Protestbewegung seit mehr als sieben Monaten der blutigen Repression von Diktator Bashar al-Assad. Das Regime scheint kaum geschwächt, aber auch die Opposition lässt nicht nach. Layla Al-Zubaidi von der Heinrich Böll Stiftung erläutert Hans Dembowski die Hintergründe.


Interview mit Layla Al-Zubaidi

Woher nimmt der Protest in Syrien den langen Atem?
Die Unterdrückung ist in der Tat brutal. Laut Schätzungen wurden 3000 bis 4000 Menschen getötet, 10 000 werden vermisst. Rund 20 000 Menschen dürften inhaftiert worden sein. Diese Grausamkeit feuert den Protest aber auch an, weil immer mehr Familien und Stämme betroffen sind und die Wut entsprechend wächst. Das Vorgehen der Milizen, die Assad zu Diensten sind, zeigt zudem, dass es um den Machterhalt mafiöser Strukturen geht, obwohl Assad immer so tat, als bemühe er sich um Recht und Ordnung. Seine Reformangebote kamen aber immer zu spät, waren zu gering und sind längst nicht mehr glaubwürdig.

Das erklärt aber nicht, warum Menschen monatelang bereit sind, bei Demonstrationen ihr Leben zu riskieren.
Die Menschen sagen: „Eine halbe Revolution heißt, dass wir mit eigenen Händen unser Grab schaufeln.“ Sie wissen, dass die Rache des Regimes – sollte es überleben – schrecklich sein wird. In den 80er Jahren ließ Hafis al-Assad, der Vater des heutigen Diktators, einen Aufstand der sunnitischen Moslembruderschaft in Hama militärisch unterdrücken. Es gab mehr als 20 000 Tote. Später wurden alle Beteiligten, die überlebt hatten, verfolgt und ausgeschaltet. Entsprechend ist der Protestbewegung heute klar, dass der Weg zurück verbaut ist. Zugleich ermutigt sie, dass der internationale Druck auf Assad steigt und dass immer wieder Soldaten desertieren. Die Leute denken, dass sie das Regime jetzt loswerden – oder nie. Dass Ben Ali, Mubarak und Gaddafi gestürzt sind, zeigt zudem, dass Diktaturen nicht ewig halten.

Wenn die Opposition so entschlossen ist, warum ist das Regime in Syrien dann noch so stark?
Auch dafür gibt es mehrere Gründe:
– Anders als Ben Ali oder Mubarak hatte Assad vor Ausbruch der Proteste seine Popularität nicht völlig verloren. Das lag unter anderem an seiner Ablehnung der Allianz zwischen den USA und Israel. Diese volksnahe Außenpolitik kam
gut an.
– Weite Teile der Bevölkerung haben sich den Protesten noch nicht angeschlossen, sondern hoffen, dass alles irgendwie vorübergeht. Dazu gehören zum Beispiel die verschiedenen christlichen Kirchen, die Angst vor Islamisierung haben, aber auch die Business Community, die in den vergangenen zehn Jahren von der Liberalisierungspolitik profitiert hat.
– Assad stützt sich auf das Militär, wohingegen Ägypten und Tunesien Polizeistaaten waren, in denen die Armee eine Art Schiedsrichterrolle übernehmen konnte. Diese Option besteht in Syrien nicht. Die Generäle sind eng in das Regime eingebunden.

Assad und viele Spitzenleute im Militär sind nicht wie die Mehrheit der Syrer sunnitische Muslime, sie gehören zur schiitischen Sekte der Alawiten. Spielt das eine Rolle?
Ja, aber es wäre falsch, das Regime alawitisch zu nennen. Assads Vater hat sich aus bescheidenen Verhältnissen hochgearbeitet. Die Alawiten waren früher eine marginalisierte, ländliche Bevölkerungsgruppe. Sicherlich schweißt ihre Aufstiegserfahrung ihre Mitglieder im Regime zusammen. Andererseits hat sich das Regime aber um die Inklusion anderer Gruppen bemüht und sich als Beschützer der reli­giösen Minderheiten inszeniert. Weil es auch auf die überwiegend sunnitische Business-Community zugegangen ist, findet es in den Wirtschaftszentren Damaskus und Aleppo auch weiterhin Rückhalt.

Im Westen gab es lange die Hoffnung, Assad wolle Reformen. In der E+Z/D+C vom März 2009 schrieben Autoren aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Beispiel, Deutschland könne in Syrien den Wandel zu einer sozialen Marktwirtschaft unterstützen. Waren das alles Illusionen?
Ohne demokratische Reformen und staatliche Sozialleistungen lässt sich der Wandel zur Marktwirtschaft nicht sozial verträglich gestalten. Assad gibt sich als Modernisierer, war aber an Demokratie nie interessiert. Und im Zuge der ökonomischen Liberalisierung sind die Korruption schlimmer und die Einkommensschere größer geworden. Es sind vor allem die verarmten Schichten und arbeitslosen Jugendlichen in den vernachlässigten Provinzen, die jetzt auf die Straße gehen.

Assad gibt sich modern, aber sein Verbündeter Iran steht für schiitischen Islamismus. Wie passt das zusammen?
Das passt nicht zusammen, aber Iran und Syrien geben sich eben auch gemeinsam als Bollwerk gegen amerikanisch-israelische Hegemonie, und das ist auch vielen Sunniten wichtiger als die ideologischen Unterschiede oder sunnitisch-schiitische Animositäten. Zugleich hat das Assad-Regime aber auch den Konflikt mit Israel nie eskalieren lassen, sodass niemand Angst vor Krieg haben musste. Syrien war berechenbar. Es ist schon eigenartig, dass im Moment die Hisbollah im Libanon und die israelische Regierung gleichermaßen fürchten, Assad könne stürzen. Syrien wird heute als Paria-Staat dargestellt, aber in den vergangenen Jahren hat die internationale Gemeinschaft Assad als Garanten der Stabilität wahrgenommen.

Hatte denn die Sanktionsdebatte im UN-Sicherheitsrat eine Bedeutung?
Ja, den Syrern ist klar, dass Assad nicht viele Verbündete hat. Aber seine Clique ist auch nicht isoliert, denn seine Verbündeten Iran, Russland und China sind stark. Nachdem China im Sicherheitsrat gegen Sanktionen gestimmt hat, haben in Syrien einige Anhänger der Protest­bewegung für die Unabhängigkeit Tibets demonstriert – das war eine witzige Art, den eigenen Machthaber zu kritisieren.

Hat die Türkei Einfluss auf Assad?
Sie hat sicherlich weniger Einfluss als Premierminister Recep Erdogan wohl dachte. Seine Töne werden zusehends schärfer, aber ob das in der Praxis Konsequenzen hat, ist nicht klar. Hinter den Kulissen versuchen seine Diplomaten sicherlich immer noch, das syrische Regime zu Reformen zu drängen. Die Türkei hat auch ein unmittelbares eigenes Interesse, dass beispielsweise die Lage in Kurdistan nicht eskaliert.

Bislang war das ja auch so, aber nun scheinen auch die syrischen Kurden zu rebellieren.
Protest gibt es in ihren Gebieten schon seit längerem, und diese Bevöl­kerungsgruppe wird stark diskriminiert. Das syrische Militär hat sich aber dort zurückgehalten, um den Widerstand nicht anzufeuern. Andererseits versucht beispielsweise die Kurdenorganisation PKK auch, die Proteste klein zu halten. Vermutlich fürchtet sie, sie werde in demokratischeren Verhältnissen ihre Hegemonie verlieren. Aber nach der Ermordung des kurdischen Oppositionellen Meschaal al-Tammo kocht die Stimmung jetzt richtig hoch.

Ende September gründete die syrische Opposition einen Nationalrat, um die Protestbewegung zu vertreten. Mir scheint das sehr spät – und der Nationalrat wirkt auch schwach.
Es war nicht leicht, den Nationalrat zu gründen und dafür die Kluft zwischen der Opposition im Land und der Dia­s­pora zu überbrücken. Die syrische Opposi­tion ist ohnehin seit langem tief gespalten. Sie zerfällt in Linke, Liberale und Islamisten, und auch innerhalb dieser Lager herrscht oft keine Einigkeit. Es ist aber gut, dass es den Nationalrat jetzt gibt. Er bietet die Chance, sich auf einen politischen Prozess zu ver­ständigen. Der Erfolg hängt davon ab, dass Identitätsfragen jetzt erst mal zurückgestellt werden. Ist Syrien eine islamische Nation? Oder eine arabische? Darum darf es jetzt nicht gehen. Nötig ist der Übergang zur Demokratie, wobei die Minderheiten geschützt werden müssen. Nur auf dieser Basis ist eine friedliche und langfristige stabile Lösung denkbar. Die internationale Gemeinschaft sollte das – so gut sie kann – unterstützen.

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